Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
Dezembers im Temple.
Möge das Licht des Mondes stets die Finsternis Ihrer Nacht erhellen.
Ivy-Máire de Lycana
Abraham van Helsing sah auf den Brief hinab. Seine Hand begann zu zittern. Er warf das Blatt auf seinen Schreibtisch und betrachtete irritiert seine Hände. Was war das? So etwas kannte er gar nicht von sich. Ganz gleich, in welcher Gefahr er sich befand, ob er den Degen oder ein Paar Pistolen in den Händen hielt, seine Finger zitterten nie! Aber jetzt, als sein Blick über die fast magischen Worte dieses Briefes glitt, erfasste ihn eine so unerträgliche Spannung, dass sie sich über seine Fingerspitzen zu entladen suchte. Nein, dieses Zittern bedeutete keine Furcht. Es war der Ausdruck von unterdrückter Ungeduld.
Seit van Helsing in den Karpaten in Draculas Wolfsaugen geblickt hatte, träumte er von diesem alten, mächtigen Vampir, und die Frage, wann und wo er sich ihm stellen würde, raubte ihm seine Ruhe. Er wusste, dass Dracula seine Urgroßmutter und zwei ihrer Kinder getötet hatte. Aus diesem Grund war sein Urgroßvater Georg van Helsing damals aufgebrochen, die Blutsauger zu jagen, die ihm das angetan hatten. Ihm war es tatsächlich gelungen, Dracula aufzuspüren, doch seinen Kräften war er nicht gewachsen gewesen. Er vernichtete das Vampirweib an seiner Seite, unterlag dann aber dem Meister selbst, sodass sein Sohn, Abraham van Helsings Großvater, als Waise aufwachsen musste.
Das hatte er schon vor vielen Jahren herausgefunden, aber woher zum Teufel wusste Ivy davon? Es würde ihm in seinem Leben vermutlich nicht mehr gelingen, diese rätselhafte Vampirin zu durchschauen.
Van Helsing las den Brief erneut durch, dann faltete er ihn behutsam zusammen und schob ihn in seine Tasche. Mit starrem Blick gab er sich noch einige Momente seinen Tagträumen hin, dann eilte er in sein Schlafzimmer.
» Henk!«
» Ja Doktor? Sie wünschen?«
Sein Diener war wieder einmal so schnell zur Stelle, dass van Helsing der Verdacht kam, er müsse ständig in seiner Nähe herumschleichen, wie ein Vampir unerkannt im Schatten verborgen. Das war natürlich Unsinn. Henk war lediglich ein guter Diener, der ein Gefühl dafür hatte, wann sein Herr ihn benötigte.
» Sie verreisen? Soll ich Ihren Koffer packen?«
Van Helsing nickte nur. Er fragte sich nicht, woher Henk das wissen konnte, da er sich selbst ja gerade erst entschieden hatte, doch das interessierte ihn im Augenblick auch nicht. In Gedanken war er schon in London und bei dem entscheidenden Treffen mit Dracula.
» Wohin geht es, wenn ich fragen darf, und wie lange? Für welche Anlässe soll ich Ihre Garderobe wählen? Werde ich Sie begleiten?«
So viele Fragen. Unwillig riss sich van Helsing aus seinen Gedanken los. Er zwang sich, dem Diener nicht unwirsch zu antworten. Henk musste ihm diese Fragen stellen. Die erste war am leichtesten zu beantworten.
» Es geht nach London und nein, ich werde dich dort nicht benötigen. Ich werde bei meinem Freund Bram Stoker wohnen. Ich werde dort…« Er überlegte, wie er es ausdrücken sollte. » Es ist eine Studienreise, keine Gesellschaftsanzüge! Und ich kann noch nicht genau sagen, wie lange ich bleiben werde. Eine Woche oder mehr.«
Der Diener hatte verstanden. Seine Augen leuchteten. » Eine Studienreise? So wie in die Karpaten?«
Van Helsing schmunzelte. » Ja, so etwa könnte man sagen.«
» Dann benötigen Sie die übliche Ausrüstung.« Henk nickte wissend und eilte davon, um alles Nötige vorzubereiten.
*
Das Abendessen war längst vorüber und bald würde Miss Underhill kommen und die Mädchen auffordern, zu Bett zu gehen und das Licht zu löschen. Latona saß wieder einmal abseits von den anderen, die sich in kleinen Grüppchen zusammengefunden hatten und sich mit ihren Handarbeiten beschäftigten, während ihre Zungen sich noch schneller bewegten als ihre Nadeln, die Blumen und anderes buntes Zeug aus farbigem Garn erblühen ließen. Ihre Gespräche waren genauso leicht und bunt wie ihre Stickereien. Sie neckten sich und kicherten. Das heutige Gesprächsthema war der Sohn des Verwalters, der irgendwo studierte– wo genau, hatte Latona nicht mitbekommen– und nun zu einem verfrühten Weihnachtsurlaub heimgekehrt war. Es ging das Gerücht um, er wäre eines derben Streiches wegen für einige Tage suspendiert worden und daher bester Laune eine Woche früher nach Hause gereist. Nun wurden seit Stunden die körperlichen Vorzüge des jungen Mannes erörtert und die wenigen Sätze, die die
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