Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
Körper durchrann, und eine Spannung, die all ihre Muskeln zu erfassen schien. Beschwingt schritt sie über den winterlichen Rasen unter alten Parkbäumen, deren kahle Zweige sich in den grauen Dezemberhimmel reckten.
Ihre Flucht war geradezu lächerlich einfach gewesen. Sie hatte nicht einmal über die Mauer klettern müssen, um das Internatsgelände auf dem alten Klostergrund zu verlassen. Das schmiedeeiserne Tor zur Straße war nicht einmal versperrt gewesen! Zum Glück hatte sie als Erstes das Schloss überprüft, statt sich über die Mauer zu quälen und womöglich ihren Rock zu zerreißen.
Auch der Weg zum Bahnhof war leicht zu finden. Dafür wurde ihr das Warten in der nächtlichen Kälte bald zur Qual, und sie war erleichtert, als der erste Morgenzug nach London endlich einfuhr– noch lange bevor die Mädchen im Internat geweckt wurden!
Der Zug war überfüllt, und Latona, die sich nur eine billige Fahrkarte genehmigte, fand sich zwischen nach altem Schweiß und Zwiebeln stinkenden Arbeitern in einem Waggon eingequetscht wieder. Die Holzbänke waren nicht gerade bequem, aber zumindest schenkte ihr niemand Beachtung. So saß sie in ihren einfachen grauen Umhang gehüllt, die Kapuze ins Gesicht gezogen, da und zählte die Minuten, bis sie in London anlangten und sie sich auf den Weg zu den Kensington Gardens machen konnte.
Endlich! Latona blieb stehen. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolken und ließ den goldverzierten Baldachin erglühen, unter dem Prinz Albert ganz in Gold auf seinem Thron saß und hinüber zu dem mächtigen Kuppelbau der Royal Albert Hall blickte.
Nun war sie also wieder hier. Nach so langer Zeit. Latona konnte es kaum fassen, als ihr klar wurde, wie viele Monate vergangen waren, seit sie Malcolm in Paris Lebewohl gesagt hatte. Und wie oft hatte sie versucht, hierherzukommen, um nach seiner Nachricht, die er ihr versprochen hatte, zu suchen! Nur ein paar Mal war es ihr gelungen, wenn auch nicht zur besten Tageszeit und immer in Begleitung, sodass sie nie in Ruhe alles hatte absuchen können. Jedenfalls hatte sie bisher nicht einmal eine Spur von Malcolm entdecken können.
Plötzlich fühlte sich Latona verzagt. Wie kam sie auf den Gedanken, Malcolm könnte nach so langer Zeit noch nach ihr suchen? Warum glaubte sie, gerade heute eine Nachricht entdecken zu können? Ivy hatte ihr zwar versichert, er warte auf sie. Aber konnte sie ihr trauen?
Nun, sollte er einen Brief für sie zurückgelassen haben, dann hatte er ihn sicher nicht so platziert, dass er leicht in fremde Hände gelangen konnte oder der erste Regen ihn wegwaschen würde. Deshalb nahm sie an, dass seine Nachricht– selbst nach so langer Zeit– noch irgendwo hier auf sie wartete.
Latona ließ den Blick über das gewaltige Denkmal schweifen. Nein, wenn es um ihren geliebten Gemahl ging, konnte Königin Victoria nichts üppig oder prächtig genug sein.
Der Baldachin über der Statue des Prinzen war reichlich mit Figuren und Türmchen geschmückt und bot unendlich viele Möglichkeiten, einen Brief zu verstecken, allerdings würde vielleicht ein Vampir auf den kirchturmhohen Bau hinaufgelangen, nicht aber ein Mensch. Latona konnte nur hoffen, dass Malcolm dies bei der Wahl seines Verstecks bedacht hatte. Ihr Blick wanderte weiter über die goldene Figur des Herrschers. Vier weiße Skulpturengruppen erhoben sich neben den Säulen, die den Baldachin trugen. Sie sollten wohl Handel, Handwerk und Landwirtschaft als Stützen des Landes oder so etwas in der Art darstellen. An den vier Ecken unterhalb der Stufen des Sockels gab es dann noch vier weitere Skulpturengruppen aus Menschen und Tieren, verbunden durch den rotgoldenen Zaun, der das gesamte Kunstwerk umgab.
Wo um alles in der Welt konnte Malcolm seinen Hinweis versteckt haben?
Es gab so viele Möglichkeiten. Latona lief um das Denkmal herum. Sicher würde sie dazu über den Zaun klettern müssen. Wie stellte sich Malcolm das vor? Obgleich an diesem Wintertag nicht viele Menschen im Park unterwegs waren, war das mit ihren Röcken nahezu unmöglich, ohne hängen zu bleiben und sich den Saum zu zerreißen. Aber würde ein Vampir an so etwas denken und darauf Rücksicht nehmen?
Die einzigen Figurengruppen, denen sie näher kommen konnte, ohne über den Zaun zu klettern, waren die unteren vier. Sie drehte noch einige Runden um das Denkmal und dachte nach, bis sie schließlich neben der Figurengruppe stehen blieb, die ein
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