Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
war er neben Leo und Alisa derjenige, der diese Fähigkeit am besten beherrschte. Malcolm und Clarissa konnten es gar nicht und die Pyras und Luciano waren nicht gerade Meister dieser Disziplin.
» Gute Idee«, stimmte Malcolm zu und trat neben Alisa.
Sofort stellte sich Franz Leopold zu Luciano und Clarissa. »Dann werde ich mal auf unsere beiden Turteltäubchen aufpassen.«
Alisa sah zu Malcolm und wusste nicht, ob sie sich freuen sollte. Natürlich war sie gerne in seiner Gesellschaft, aber sie wollte auch keine weiteren Missverständnisse zwischen ihr und Leo provozieren. Seit dem unglückseligen Duell sprachen sie wieder miteinander.
Ihre Freundschaft schien gerettet. Aber mehr auch nicht. Nichts von der trauten Zweisamkeit in Wien, von dem überschäumenden Glück, seine Berührungen auf ihrer Haut zu spüren… Sie unterdrückte einen Seufzer. Vielleicht war das einfach zu viel verlangt. Vielleicht war es gar nicht möglich, für mehr als nur kurze Zeit zu solch einer Harmonie zu finden. Dazu waren sie einfach zu verschieden.
Alisa sah zu Leo hinüber. Ist es in Ordnung, wenn ich mit Malcolm gehe?
Für einen Moment blitzten die Augen des Dracas gefährlich, doch seine Stimme klang ungerührt. » Warum nicht? Dann kann ich ein Auge auf unsere vorwitzige Clarissa haben. Nicht auszudenken, wenn sie sich zu weit vorwagt und ihr Näschen in Dinge steckt, die ihr gefährlich werden könnten.«
» Danke, aber ich brauche deinen Schutz nicht«, widersprach Clarissa kühl, während Luciano rief:
» Ich bin sehr gut selbst in der Lage, auf Clarissa aufzupassen!«
Leo grinste breit. » Ist es nicht immer wieder ein Vergnügen, wenn man von seinen Freunden so sehr geschätzt wird?«
Alisa musste trotz Leos Dreistigkeiten lächeln. » Immerhin schätzen sie deine wertvolle Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Sie wissen ganz genau, dass niemand so gut darin ist wie du, jedem Menschen seine tiefsten Geheimnisse zu entlocken.«
» Ja, das stimmt«, sagte Luciano versöhnlich. » Darin bist du der unumstrittene Meister. Ich bin gespannt, was du herausbekommen wirst.«
Leo hob abwehrend die Hände und warf rasch einen Blick in Alisas Richtung. » In Ordnung. Genug der Schmeicheleien. Gehen wir. Wer wird sich wen vornehmen?«
Tammo wollte unbedingt die Freundinnen der Opfer befragen, die sie zuletzt gesehen hatten.
» Ich habe noch nie mit einer Dirne gesprochen. Das interessiert mich«, gab er offen zu. Alisa schüttelte missbilligend den Kopf, widersprach aber nicht und kündigte an, mit den Hausbewohnern in George Yard zu reden. Vor allem mit dem Mann, der die Leiche gefunden hatte.
» Dann bleiben für uns die Hafenarbeiter im Fall Mary Nichols«, sagte Luciano und nickte. » Also los, dann treffen wir uns später wieder hier.«
*
Es war ein Uhr vorbei, als Latona in die trostlose Welt von Eastend eindrang. Sie war einfach weitergelaufen, hatte sich treiben lassen, obwohl sie wusste, dass es eine gefährliche Gegend war und der Pförtner der Vyrad sie sogar noch davor gewarnt hatte. Aber sie dachte nur an Malcolm und ihr bald bevorstehendes Wiedersehen. Irgendwo hier in Whitechapel war er im Moment unterwegs. Was, wenn sie ihm nun geradewegs in die Arme lief?
Diese wundervolle Vorstellung hielt sie eine Weile warm und trieb sie forschen Schrittes vorwärts. Sie folgte einer engen Gasse, in der keine Gaslaternen brannten, und der Schein der Lampe an der Ecke verblasste nur allzu schnell. Nebelschwaden umwirbelten ihre Knöchel. Latona beschleunigte unwillkürlich ihre Schritte. Sie unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen, als sie das Ende der Gasse erreichte und sich vor ihr die eiserne Konstruktion einer Markthalle erhob.
Spitalfields Market stand auf einem verrosteten Schild. Der Name des traditionellen Obst- und Gemüsemarkts wies noch auf die Abtei hin, die bereits im Mittelalter das St. Mary’s Spital ins Leben gerufen hatte. War dies schon damals ein Ort der Armen gewesen? Bestimmt. Hier sammelten sich all diejenigen, die verzweifelt versuchten, ein Stück vom Kuchen der reichen Stadt London abzubekommen, denen es aber nicht gelang, die Mauer, mit der sich die City abschirmte, zu überwinden. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich vor der Stadtmauer niederzulassen. Im Osten der Stadt, dort, wo der Wind all den Gestank und Dreck der rauchenden Schornsteine hinwehte. Vor allem bei dieser Witterung, wenn der Nebel in nahezu windstillen Nächten an den Wänden emporkroch, legte sich der Kohlenstaub
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