Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
Snatcher , wie man Grabräuber hierzulande nannte. Sie suchten nicht, wie in alten Zeiten, nach Schätzen in den Gräbern. Der Schatz war der Tote selbst. Je frischer, desto mehr Pennys brachte er ein. Onkel Carmelo hatte ihr einst davon erzählt, als sie auf einem Friedhof nach Vampiren Ausschau gehalten hatten.
Bis vor wenigen Jahrzehnten waren Hingerichtete die einzigen Leichen gewesen, die von Ärzten und Studenten seziert werden durften. Seit Beginn des Jahrhunderts sank die Zahl der Hinrichtungen drastisch, dagegen schossen die Universitäten, an denen Medizin gelehrt wurde, und die Zahlen an Studenten, die für ihre Ausbildung Sektionen vornehmen mussten, in die Höhe. Mehr als fünfhundert Leichen pro Jahr würden in England dafür benötigt, hatte Carmelo behauptet, gegen die kaum fünfzig Hinrichtungen standen. Also musste man den Bedarf eben auf andere Weise decken. Seit dem Anatomy Act von 1832 war es zwar nicht mehr verboten, auch andere Tote für anatomische Studien zu verwenden, doch noch immer waren frische Leichen rar. Wer wollte schon, dass sein Körper vor einer Horde gaffender Studenten auf einem Seziertisch in seine Einzelteile zerlegt wurde? Daher fragten die Abnehmer auch in diesen Tagen lieber nicht, woher die Ware der zwielichtigen Gestalten kam. Hauptsache, sie war frisch.
» James, sieh nur, was wir da für eine Schönheit entdeckt haben«, hörte sie den Alten sagen. » Sie kann keine zwanzig Jahre alt geworden sein, und sie ist noch keine zwei Tage tot«, ergänzte der Alte zufrieden. » Ja, ein ganz prächtiger Fund. Komm, fass mit an.«
Sie hoben die Tote aus dem Sarg und legten sie auf ein Tuch oder eine helle Decke, die Latona im Mondlicht leuchten sah. Dann klappten sie den Sarg wieder zu und schaufelten die Erde an ihren Platz zurück.
» Seit wann interessiert es dich, ob die Toten jung und schön sind oder nicht?«, erkundigte sich der Junge misstrauisch.
» Du hast ganz recht«, sprach die raue Stimme. » Ihr hübsches Gesicht ist mir gleichgültig. Aber ihr wundervolles Haar nicht! Gib mir mal die Schere. Diese Locken werden uns bei einem wigmaker ein paar zusätzliche Münzen einbringen.«
Offensichtlich waren nicht nur Mediziner an den Toten interessiert, wie Latona aus dem entzückten Ausruf des Leichenräubers schloss. Sie hörte das Rascheln, wie die Schere durch die Haarsträhnen fuhr. So würde das Haar der Toten bald als Perücke einen anderen Kopf zieren.
» Und nun gib mir die Zange.«
» Wozu?«, fragte der Jüngere erstaunt.
» Das junge Ding hat nicht nur schönes Haar. Ich wette, auch ihre Zähne sind noch in ganz prachtvollem Zustand.«
» Du willst ihr die Zähne rausziehen?«
» Aber ja. Ich denke nicht, dass das den Preis des Doktors mindert. Sie wollen ihren Leib aufschneiden und in ihren Eingeweiden herumwühlen. Wozu brauchen sie da ihre Zähne? Nein, die können wir einem Zahnarzt anbieten. Die zahlen nicht schlecht.« Der junge Mann stöhnte.
» Stell dich nicht so an und komm her. Los, halte ihr den Mund auf, dass ich besser rankomme.«
Das Geräusch ließ Übelkeit in Latona aufsteigen. Es wurde Zeit, sich zurückzuziehen. Bedächtig rutschte sie zu dem nächsten großen Grabstein zurück, drehte sich um und hastete so leise wie möglich davon. Erst als sie die Gittertür hinter sich zuzog, erlaubte sie sich tief durchzuatmen.
Annie Chapman
» Und was machen wir jetzt?«, fragte Tammo ein wenig missmutig.
Sie hatten die Tatorte der beiden Morde besucht und noch einmal genau Witterung aufgenommen, doch es war inzwischen zu viel Zeit verstrichen und zu viele Menschen waren dort gewesen, um den Mörder herauszuwittern– wenn es denn in beiden Fällen derselbe war! Zudem gab es mehrere Personen, die an beiden Orten aufgetaucht waren, die aber auch von der Polizei sein konnten. Der Inspektor, beispielsweise, war ganz sicher an beiden Orten gewesen, und sie wussten noch nicht, welcher Geruch zu ihm gehörte. Das würden sie zuerst abklären müssen.
» Wir könnten die Zeugen noch einmal befragen«, schlug Alisa vor. » Vielleicht haben sie der Polizei nicht alles gesagt. Wir sollten ihre Gedanken erforschen, ob sie etwas verschweigen. Ob absichtlich oder unabsichtlich, ist gleich. Wenn sie etwas in ihrem Geist verbergen, können wir es finden.«
Die anderen waren einverstanden.
» Wir teilen uns besser auf. Und in jeder Gruppe sollte einer dabei sein, der gut Gedanken lesen kann«, schlug Joanne vor und zwinkerte Tammo zu.
Unbestritten
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