Die Erben der Schwarzen Flagge
Gefangenschaft, als sie in ihrer Kammer Besuch erhielt – von keinem anderen als Nick Flanagan. Elena war gerade dabei, ihr Frühstück einzunehmen, eine einfache Mahlzeit, die aus ein wenig Dörrobst und trockenem Zwieback bestand, aber sie beschwerte sich nicht darüber.
»Guten Morgen«, sagte sie und lächelte matt – Nick Flanagan jedoch schien nicht aufgelegt, Höflichkeiten auszutauschen.
»Dreiundzwanzig Tage, Mylady«, sagte er nur. »Dreiundzwanzig Tage, und noch immer keine Nachricht von Eurem Vater. Dem Conde scheint nicht viel an Euch gelegen zu sein. Oder wie erklärt Ihr Euch sonst diese Verzögerung?«
»Ich habe keine Erklärung dafür«, erwiderte Elena schlicht. Jene Unbeugsamkeit, mit der sie sich zu Beginn ihrer Gefangenschaft behauptet hatte, war stiller Nachdenklichkeit gewichen. »Ich dachte immer, mein Vater liebe mich von ganzem Herzenund werde die fünfzigtausend Dublonen jederzeit bezahlen, um mich aus Euren Händen zu befreien.«
»Es sei denn, er liebt sein Geld mehr als Euch«, wandte Nick ein. »So etwas soll vorkommen.«
»Nicht bei meinem Vater«, erwiderte Elena. »Es gibt sicher triftige Gründe für die Verzögerung«, fügte sie hinzu, aber es klang nicht so überzeugt, wie es hätte klingen sollen.
»Meine Leute werden allmählich unruhig«, erklärte Nick. »Einige drängen mich, einen kleinen Teil von Euch nach Maracaibo zu schicken, um die Entschlusskraft des Conde zu beflügeln.«
»Einen kleinen Teil von mir?«
»Zuerst eine Strähne von Eurem Haar. Dann einen Finger. Schließlich ein Ohr. Und dann …«
»Genug!«, verlangte Elena. Ihre Züge verrieten blankes Entsetzen. »Zeigt Ihr nun Euer wahres Gesicht, Nick Flanagan? Würdet Ihr so etwas Abscheuliches tun?«
»Wenn ich es tun wollte«, stellte Nick klar, »hätte ich es längst getan. Aber ich habe versprochen, dass Euch kein Haar gekrümmt wird, solange Ihr Euch in meiner Obhut befindet, und daran werde ich mich halten. Aber nun sagt mir, Mylady: Handle ich wie ein Ehrenmann oder wie ein Dummkopf?«
»Was meint Ihr?«
»Nicht wenige unter meinen Männern glauben, dass Ihr es darauf anlegt, uns alle an den Galgen zu bringen.«
»Aber wie sollte ich das denn tun?« Elena lachte bitter. »Ich bin hunderte von Seemeilen von zu Hause entfernt, und mein Vater weiß nicht, wo ich mich befinde. Wollt Ihr mich dafür bestrafen, dass ich noch nicht ausgelöst wurde? Auch ich kann mir das Ausbleiben des Lösegeldes nicht erklären, und es ist nicht Euer, sondern mein Leben, mit dem mein Vater der Conde leichtfertig spielt.«
»Ihr glaubt also, es gehört zu seiner Taktik?«
»Es wäre möglich«, erwiderte sie.
»Was für eine Taktik sollte das sein, das Leben der eigenen Tochter aufs Spiel zu setzen?«, fragte Nick verständnislos. »Hat der Graf denn keine Ehre im Leib?«
»Und ob, Nick Flanagan«, versicherte Elena ruhig. »Aber er trägt Verantwortung für viele Menschen und muss nach den Verpflichtungen entscheiden, die sein Stand ihm auferlegt. Wärt Ihr nicht von einem einfachen Seemann, sondern von Eurem wirklichen Vater erzogen worden, so könntet Ihr vielleicht ermessen, wovon ich …«
Nick stand da wie vom Donner gerührt.
»Woher wisst Ihr …«, begann er.
Elena biss sich auf die Lippen. Pater O’Rorke hatte ihr das Versprechen abgenommen, dass sie Nick gegenüber kein Wort über seine Herkunft verlieren würde. Aber nun war es dennoch geschehen, und die Schuld daran lag einzig und allein bei Nick Flanagan selbst, der sie fortwährend dazu trieb, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun wollte.
»Wer hat es Euch gesagt?«, hakte Nick nach. »Nennt mir den Namen, sofort.«
»Es war Pater O’Rorke«, erwiderte sie zögernd und errötete. »Aber zürnt ihm nicht deswegen, Nick. Er hat es gut gemeint. Er wollte Euch helfen.«
»Auf solche Hilfe verzichte ich«, murrte Nick. »Ich hatte ihn ausdrücklich gebeten, seinen Verdacht für sich zu behalten.«
»Ist es denn nicht mehr als ein Verdacht?«
Nick zuckte mit den Schultern. »Der Pater scheint überzeugt zu sein, dass ich der Erbe des Hauses Graydon bin – ich hingegen habe Zweifel. Aber selbst wenn es so wäre, was nützte es mir? Ich muss meinem eigenen Stern folgen und meinen Platz im Lebenfinden. Es ändert sich nichts dadurch, dass mein Vater von Adel war.«
» Alles ändert sich dadurch«, widersprach Elena entschieden. »Versteht Ihr das denn nicht?«
»Weshalb? Weil Ihr dem Sohn eines Lords mehr Glauben schenkt als einem
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