Die Erben der Schwarzen Flagge
Konservatorium zur Ausbildung geschickt, auf dass sie das Einmaleins der Politik und der Diplomatie erlerne – und was gibt man mir zurück? Eine moralisierende Philosophin!«
»Keineswegs«, beeilte sich Elena zu versichern, die nur zu genau wusste, wie sie ihren Vater nehmen musste, um ihren Willen durchzusetzen. »Aber wir jungen Leute haben eben unsereeigene Art, die Dinge anzugehen – was nicht bedeutet, dass wir sie weniger gut machen. Du wirst sehen, dass die Sklaven besser und härter arbeiten, wenn wir ihre Lebensbedingungen ein wenig verbessern.«
»Ihre Lebensbedingungen verbessern? Was hast du vor? Ihnen Samtkissen in die Hütten legen?«
»Gewiss nicht. Aber wir sollten die Proviantrationen erhöhen und dafür sorgen, dass sie Zitronen und anderes Obst zu essen bekommen. Viele von ihnen leiden Mangel, wie ich auf einen Blick feststellen konnte. Und wer Mangel leidet, der arbeitet schlecht. Verstehst du, was ich meine?«
Navarro überlegte und grinste dann breit. »Ich denke schon, meine Tochter. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, dich ans Konservatorium zu schicken.«
»Also wirst du meine Vorschläge beachten?«
Der Graf zögerte unmerklich. »Aber natürlich, Tochter«, versicherte er schließlich. »Alles soll genau so geschehen, wie du es verlangst …«
2.
I n den folgenden Wochen war von den Überraschungen des Lebens, die der alte Angus Nick angekündigt hatte, nichts zu spüren.
Das Leben der Sklaven nahm weiter seinen grausamen Gang, der Tod war ihr ständiger Begleiter. Einige Gefangene starben, weil die ohnehin schon knappen Essensrationen noch mehr gekürzt wurden, und neue Sklaven trafen im Lager ein, um sie zuersetzen. Schicksalsergeben nahm man es hin, und selten hatte Nick mit weniger Zuversicht und Hoffnung zum Horizont geblickt.
Die Begegnung mit Navarros Tochter hatte sein Selbstvertrauen tief erschüttert. Zum ersten Mal in seinem noch jungen Leben beschlich ihn die Furcht, dass seine Hoffnung vergeblich gewesen war. Dass sich niemals, niemals etwas ändern und er stets ein elender Sklave bleiben würde – bis zu dem Tag, an dem er auf dem Weg einen Fehltritt tat und in die Tiefe stürzte. Man würde hinuntersteigen, um das Silber zu bergen, das er getragen hatte; seinen Leichnam aber würde man liegen lassen, genau wie bei all den anderen, die auf dem Todespfad ihr Leben gelassen hatten. Vielleicht – und dieser Gedanke ließ Nick erschaudern – war dies allein seine Bestimmung.
Carlos de Navarro hatte eine Tochter, eine Erbin, die die Kolonie in seinem Sinn weiterführen würde, wenn er einst nicht mehr war. Das bedeutete, dass sich niemals etwas ändern würde, dass alles beim Alten bliebe, ohne Aussicht auf Rettung.
Nobody Jim und der Indianer Unquatl versuchten, Nick ein wenig aufzumuntern, indem sie ihm von ihren Rationen anboten; Jim brachte es sogar übers Herz, sich von einer besonders fetten Made zu trennen. Aber die Wolken über Nicks Gemüt waren nicht so ohne weiteres zu vertreiben. Vielleicht, sagte er sich, hatte er sich in all den Jahren schlichtweg einer Illusion hingegeben, einer falschen Hoffnung. Seine Freunde und die anderen Gefangenen im Lager hatten ihn stets für seinen Mut und seine Zuversicht bewundert, hatten diese für Zeichen innerer Stärke gehalten. Dabei war das genaue Gegenteil der Fall gewesen. Nick hatte sich in all den Jahren nur nicht eingestehen wollen, dass es keine Hoffnung gab. Wie ein leichtgläubiges Kind hatte er sich etwas vorgemacht, hatte sich selbst betrogen mit der Aussicht aufRettung. Dabei hätte ihm schon vor Jahren dämmern müssen, dass an einem Ort wie diesem alle Hoffnung vergeblich war. Er war ein Sklave, noch weniger wert als ein Tier – und daran würde sich niemals etwas ändern.
Der Gesundheitszustand des alten Angus bereitete Nick zusätzliche Sorgen. Seit jenem Zwischenfall auf der Passhöhe hatte der alte Seemann sich nicht wieder erholt, im Gegenteil. Seine Schritte wurden zunehmend schwerfälliger und kürzer, und sein Atem rasselte so laut, dass Nick ihn hinter sich hören konnte. Die Züge seines Vaters wirkten noch ausgemergelter als sonst, zudem hatten sie jede Farbe verloren und waren bleich wie die eines Toten.
Es gab einen Arzt im Sklavenlager, einen italienischen Feldscher, der sich irgendwann in die Gefangenschaft der Spanier verirrt hatte. Aber zum einen verstand er kein Wort Englisch, zum anderen beschränkte sich seine Kunst darauf, Schusswunden auszubrennen und Gliedmaßen
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