Die Erben der Schwarzen Flagge
der Nachmittagssonne, die das Blätterdach in satten Grüntönen leuchten ließ und den dampfenden Dschungel in einen wahren Glutofen verwandelte, erreichten die Sklaven schließlich die Passhöhe. Man ließ eine Feldflasche kreisen, aus der jeder nur einen Schluck nehmen durfte – wer mehr trank, wurde auf der Stelle ausgepeitscht. Als die Reihe am alten Angus war,konnte Nick deutlich sehen, dass sein Vater am Ende seiner Kräfte war. Der Brustkorb des alten Seebären hob und senkte sich stoßweise, seine Beine zitterten. Zudem waren seine Augen matt und blicklos geworden, und das war kein gutes Zeichen. Nick hatte diesen Ausdruck schon bei anderen Sklaven gesehen – bei solchen, die wenig später den Strapazen erlegen waren.
»Nimm noch einen Schluck, Vater«, flüsterte er, als Angus ihm die Feldflasche reichen wollte. »Du kannst meine Ration haben.«
»Kommt nicht in Frage. Hier, Junge, trink.«
»Nein, Vater. Du brauchst es nötiger als ich.«
»Verdammt, Söhnchen. Erzähl mir nicht, was ich nötig habe und was nicht. Trink schon und gib die Pulle weiter, bevor wir Schwierigkeiten kriegen.«
Nick gehorchte widerwillig, nahm seinen Schluck und gab die Feldflasche an Jim weiter. Er hatte kein gutes Gefühl dabei – zu Recht, wie sich schon wenig später herausstellte.
Denn als der Zug den Marsch fortsetzte, zeigte sich, dass der alte Angus tatsächlich am Ende seiner Kräfte war. Statt gleichmäßig einen Fuß vor den anderen zu setzen, wie er es Nick immer wieder eingeschärft hatte, kam er aus dem Trott und geriet ins Taumeln. Auf dem schmalen Pfad hin und her wankend, geriet er mehr als einmal gefährlich nah an den Abgrund. Eine Schlingpflanze, die quer über den Weg wucherte, wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Der alte Angus stolperte und schlug der Länge nach hin, landete bäuchlings im Morast – und mit ihm die wertvolle Last.
»Vater!«
Nick fuhr herum und wollte Angus zur Seite springen, ihm auf die Beine helfen, ehe einer der Aufseher etwas merkte. Aber ein warnender Blick des Alten hielt ihn zurück.
»Bleib, Junge«, stieß Angus mühsam hervor, »ich will nicht, dass du Ärger bekommst.«
Seine verbliebenen Zähne zusammenbeißend, wollte sich der Alte aus eigener Kraft auf die Beine raffen. Aber er war zu schwach und stürzte erneut, und jetzt konnte Nick nichts mehr zurückhalten. Achtlos ließ er das Silber fallen und eilte zu seinem Vater, der ächzend nach Luft rang. Nick war klar, dass er dafür ausgepeitscht werden würde, aber das war ihm gleichgültig. Der alte Angus war sein Vater, die einzige Familie, die er je gehabt hatte, und er konnte nicht tatenlos zusehen, wie er zugrunde ging.
»Lass nur, Junge, es geht schon«, murmelte der Alte, aber der Schatten über seinen ausgezehrten Zügen strafte seine Worte Lügen. »Ich muss mich nur kurz ausruhen, dann bin ich so gut wie neu …«
Nick half seinem Vater dabei, sich auf einem moosüberwucherten Felsen niederzulassen, und stützte ihn, während der alte Angus keuchend atmete. In diesem Augenblick erklang ein heiserer Schrei – und es war San Guijuelas Stimme.
»Ihr da! Was soll das? Was geht hier vor?«
Zornentbrannt hielt der Aufseher auf sie zu. Als er die beiden Silbersäcke im Morast liegen sah, verfiel er in wütendes Gebrüll. Mit einem gellenden Befehl ließ er den Sklavenzug anhalten, was selten genug vorkam. Dann wandte er sich an Nick und seinen Vater, das Gesicht verzerrt und die Augen vor Bosheit funkelnd.
»Dafür werdet ihr teuer bezahlen«, kündigte er an.
»Bitte, Senõr«, erwiderte Nick. »Mein Vater kann nicht mehr. Ich sagte Euch schon heute Morgen, dass die Passage zu viel für ihn sein würde.«
»Du schon wieder«, knurrte San Guijuela. »Hatte ich dich nicht eindringlich gewarnt?«
»Verzeiht, Senõr. Aber mein Vater …«
»So, der Alte kann also nicht mehr? Dann trete zurück, ich werde ihm das Laufen schon beibringen.« Damit entrollte der Aufseher seine Peitsche, um auf Angus einzuschlagen, aber Nick stellte sich schützend vor seinen Vater.
»Nein, Senõr!«, sagte er und hob abwehrend die Hände, doch San Guijuela kümmerte sich nicht darum. Mit einer Geste bedeutete er seinen Schergen, Nick zu ergreifen – und im nächsten Augenblick begann er auch schon, auf den alten Angus einzuprügeln. Als Nick den scharfen Knall der Peitsche und den Schrei seines Vaters hörte, als er sah, wie sich blutige Striemen über den Körper des wehrlosen alten Mannes zogen, erfasste ihn
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