Die Erben der Schwarzen Flagge
Schergen zur Stelle und versperrten ihr den Weg. Ob sie wollte oder nicht, sie würde sich ansehen müssen, was im Innenhof der Festung vor sich ging – und sie bezweifelte, dass es ihr gefallen würde.
Der Trommelschlag wurde lauter, und ein kleinwüchsiger Mann trat auf, dessen Aussehen man nur als grotesk bezeichnen konnte. Klein und sehnig, wie er war, trug er einen enormen Kopfputz aus Menschenhaar und Federn. Sein Gesicht war eine von Falten zerfurchte Maske, aus der zwei Augen leuchteten, in denen fast nur das Weiße zu sehen war. Zum Klang der Congas sprang diese eigentümliche Gestalt um den Schrein, dabei dunkle Beschwörungsformeln murmelnd. Elenas Pulsschlag steigerte sich, als ihr klar wurde, dass sie im Begriff war, Zeugin eines verbotenen Rituals zu werden, bei dem Dämonen beschworen und böse Kräfte angerufen werden sollten.
Trotz des Trommelschlags hörte sie das Pochen ihres eigenen Herzens und das Rauschen ihres Blutes. Von ihren Lehrern in Madrid war ihr beigebracht worden, dass das Zeitalter des Aberglaubens vorüber war. Dass es galt, die Welt nach menschlichen Maßstäben zu bemessen und dass Rationalität das höchste Gut des Menschen war. In Anbetracht der Düsternis jedoch, die sich wie ein hungriges Raubtier auf sie stürzte, verlor Elena den Glauben an die heilende Kraft der Vernunft. Hilflos und auf sich selbst gestellt, fühlte sie, wie Urangst nach ihrem Herzen griff. Furcht, wiesie sie noch nie zuvor verspürt hatte, hielt sie gefangen, und sie konnte nur hoffen, dass diese Nacht möglichst rasch vorübergehen und der neue Tag anbrechen würde.
Aber noch war es längst nicht so weit.
Das Haupttor des Gouverneurspalasts wurde geöffnet, und einige Sklaven erschienen, die eine Sänfte auf ihren Schultern trugen. Auf dieser Sänfte ruhte Commodore Bricassart.
Die Piraten beugten ehrerbietig die Häupter, als sie ihr Oberhaupt erblickten, das die Stufen herabgetragen und zum Podest gebracht wurde. Zu sehen, wie Bricassart seine ungeheure Masse auf den für ihn errichteten Sitz wuchtete, war auf bizarre Weise komisch, aber Elena war nicht zum Lachen zumute. Unentwegt fragte sie sich, was für eine Teufelei sich der Erzschurke ausgedacht haben mochte und welche Rolle der Schamane dabei spielte. Unruhe nagte an ihr. Nervös blickte sie zu ihrem Vater, aber der würdigte sie keines Blickes, sondern war von dem bizarren Schauspiel völlig in Bann geschlagen.
Auf der anderen Seite des weiten Runds gab es plötzlich Aufruhr. Geschrei war zu hören, und durch die Reihen der gaffenden Piraten bildete sich eine Gasse. Durch diese kam Damian Bricassart, wie immer in tiefstes Schwarz gekleidet und an der Spitze einer merkwürdigen Prozession. Die Kerle, die dem Piratenkapitän folgten, sahen längst nicht so abgeklärt aus wie Bricassarts stumpfsinnige Gefolgschaft; in ihren Gesichtern erblickte Elena dieselbe Todesangst, die auch sie verspürte, und ihr wurde klar, dass zumindest diese Männer noch nicht vom Fluch des Piraten ereilt worden waren.
Es waren Gefangene. Man hatte ihnen die Hände auf den Rücken gebunden und sie aneinander gekettet, sodass sich eine lange Reihe furchtsam dreinblickender Gestalten ergab. Ihrer Kleidung nach waren es einfache Seeleute, und zu ihrer Bestürzungerkannte Elena auch einige Spanier unter ihnen, Besatzungsmitglieder der gräflichen Galeone, mit der sie vor drei Monaten aus Spanien in die Neue Welt gekommen war.
Als die Matrosen Navarro erblickten, regte sich Hoffnung in ihren Gesichtern.
»Der Conde!«, rief einer von ihnen seinen Kameraden zu. »Nun wird alles gut, Freunde, der Graf wird uns retten …«
Aber Elenas Vater machte keine Anstalten, seinen Leuten zu helfen, schien sie nicht einmal zu erkennen.
»Wir bitten Euch, Hoheit!«, hörte man die Seeleute über das Lärmen der Trommeln hinweg flehen. »Befreit uns! Wir haben nichts Unrechtes getan, Exzellenz! Warum bestraft Ihr uns?«
Elena, der das Elend der Männer trotz ihrer eigenen misslichen Lage zu Herzen ging, wandte sich ihrem Vater zu, wollte ihn bitten, sich seiner Untergebenen anzunehmen. Aber als sie die Eiseskälte in seinen Zügen und den wahnsinnigen Glanz in seinen Augen sah, erkannte sie, dass alles Bitten vergebens sein würde. Der Conde de Navarro würde sich seiner Leute nicht erbarmen – ebenso wenig, wie er sich seiner Tochter erbarmt hatte.
Die gefangenen Seeleute – Elena zählte über fünfzig – wurden vor den Schrein geführt, und man zwang sie, davor
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