Die Erben der Schwarzen Flagge
konnte nur hoffen, dass Elena am Leben war und bei Gesundheit, auch wenn er insgeheim düstere Befürchtungen hegte. Bisweilen kam es ihm vor, als wären die Tochter des Conde und er auf unsichtbare Weise miteinander verbunden, die sie auch über viele Seemeilen hinweg ihre Empfindungen teilen ließ. Nick fühlte blanke Furcht, was Elena betraf, aber selbst in seinen dunkelsten Vorstellungen konnte er nicht ahnen, was sich tatsächlich in Port Royal abspielte …
»Sind die Vorbereitungen abgeschlossen?«, wandte er sich an den Chinesen. Ein feines Lächeln glitt daraufhin über die Züge des Asiaten, und er bejahte mit zuversichtlichem Nicken.
»Ausgezeichnet«, lobte Nick. »Gute Arbeit, Kameraden.«
Wie so oft in den letzten Tagen griff er nach dem Medaillon, das um seinen Hals hing, und betrachtete es. Der alte Angus hatte ihm aufgetragen, seiner Bestimmung zu folgen. Nichts anderes hatte Nick getan, und auf seltsame Weise schien nun alles einen Sinn zu ergeben. Nick betrachtete das Bild der jungen Frau, die seine Mutter gewesen sein mochte. Er fragte sich, welch einMensch Lady Jamilla wohl gewesen war, und ob sie gutheißen würde, was er tat.
Dann fiel sein Blick auf die Gravur des Drachen, der, wie Admiral Lancaster ihm erzählt hatte, von Anbeginn das Wappentier des Hauses Graydon gewesen war. Mit einem Drachen, dachte Nick, hatte alles begonnen – und mit einem Drachen würde es auch enden.
7.
Port Royal
5. Juni 1692
D ie Nacht war über Port Royal hereingebrochen und hatte ihren schwarzen Mantel über den Hafen und die Festung gebreitet. Wolkenfetzen übersäten den Himmel und verdeckten die Sterne; nur die bleiche Scheibe des Mondes brach sich hin und wieder Bahn und tauchte die Insel in kalten Schein. Nordwind blies von der See landeinwärts und strich mit unheimlichem Pfeifen um die Häuser. Es war eine jener Nächte, in denen Aberglaube und Furcht regierten und man geneigt war, jede Laune der Natur als apokalyptische Verheißung zu deuten. Wenn überhaupt, so verließ Commodore Bricassart nur zu solch düsterer Stunde sein Domizil, und auch dann nur zu besonderen Anlässen.
Dies war ein solcher Anlass …
Verzweifelt hatte Doña Elena in ihrem Kerker ausgeharrt, bis sich ihr Vater erneut vor ihrer Zelle zeigte. Die Hoffnung, dieElena für einen kurzen Augenblick schöpfte, zerschlug sich, als sie erkennen musste, dass ihr Vater noch immer unter dem Einfluss Bricassarts stand und in seinem Auftrag handelte. Aus ihrem dunklen Verlies führte er Elena hinauf in den Innenhof, wo grausige Ereignisse ihre Schatten vorauswarfen, und das im wörtlichen Sinn.
Denn im Schein unzähliger Fackeln, die bizarre Silhouetten an die Festungsmauern warfen, scharten sich Bricassarts Leute um den Exerzierplatz – eine Ansammlung der schäbigsten und widerwärtigsten Gestalten, die Elena je unter die Augen gekommen waren. Im Fackellicht sah man nackte, tätowierte Oberkörper glänzen und gelbe Zahnreihen blitzen; den von Narben entstellten Gesichtern fehlten nicht selten die Nase oder ein Ohr, und sie alle wiesen denselben leeren Ausdruck auf. Elena nahm an, dass es einen Grund gab für diese nächtliche Versammlung – etwas Bedeutsames sollte in dieser Nacht wohl vonstatten gehen.
Auf der anderen Seite des Platzes, unmittelbar vor dem Gouverneursgebäude, war ein Podium errichtet worden, auf dem Bricassart thronen würde. Noch war der Anführer der Flibustiers nicht selbst anwesend, aber man hatte Vorbereitungen getroffen. Eine Art Schrein war aufgestellt worden, dessen Anblick Elena kalte Schauer über den Rücken jagte; die blutigen Kadaver frisch geschlachteter Tiere wurden zur Schau gestellt, menschliche Knochen und heidnischer Federputz, aus dessen Mitte ein bleicher Totenschädel starrte. Dunkelhäutige Frauen umtanzten das makabre Gebilde und brachten Opfergaben dar. Sanft wiegten sie sich im Rhythmus der Congas, deren dumpfer Schlag etwas Einschläferndes hatte und sich wie ein Rausch über die Versammelten legte.
»Was geht hier vor, Vater?«, fragte Elena den Conde, derneben ihr stand und dem Schauspiel gleichmütig beiwohnte. »Sag mir, was das zu bedeuten hat.«
»Du wirst es sehen, Tochter«, entgegnete Navarro nur. »Dann wirst du erkennen, wer dein Herr und Meister ist.«
Sein Blick erschreckte sie, denn er enthielt jenen wahnsinnigen Glanz, den Elena auch in den Augen Damians und seines Vaters entdeckt hatte. Unwillkürlich wich sie zurück, aber sofort waren zwei von Bricassarts
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