Die Erben der Schwarzen Flagge
Stahl zurück. Heute Nacht wird er kein Blut zu schmecken bekommen.«
»Das kann ich nicht«, beharrte der Rothaarige trotzig. »Der da hat mich beleidigt. Meiner Ehre muss mit Blut Genüge getan werden, so lautet das Gesetz.«
»Das Gesetz steht nicht über dem Eid, den wir geleistet haben«, hielt Pater O’Rorke dagegen.
»Welcher Eid?«
»Du weißt, von welchem Eid ich spreche.«
»Ich weiß es.« Cutlass nickte. »Aber diesem da habe ich ihn nicht geschworen. Er ist ein dahergelaufener Fremder, und ich werde sein vorlautes Maul zum Schweigen bringen, ehe er noch mehr Unheil …«
»Und wenn ich dir sage, dass er derjenige ist?«, fragte der Pater – und hatte nicht nur Cutlass Joes Aufmerksamkeit, sondern auch die aller anderen, die ihn aus großen Augen anblickten.
»Was heißt das?«, fragte der Kapitän verdutzt.
»Das heißt, dass der junge Flanagan möglicherweise der ist, nach dem wir all die Jahre vergeblich gesucht haben«, antwortete Pater O’Rorke nicht nur zur Verblüffung der Bukaniere, sondern auch zu der von Nick und Jim, die nicht wussten, was die Worte zu bedeuten hatten.
»Blödsinn«, knurrte Cutlass und spuckte aus.
»Es wäre möglich«, beharrte Pater O’Rorke. »Vieles spricht dafür, und die Wege des Herrn sind unergründlich.«
»Blödsinn«, wiederholte Cutlass. »Du willst nur seinen Hals retten, das ist alles.«
»Durchaus nicht. Ich habe gute Gründe für meine Annahme.«
»Welche Annahme?«, wollte Nick wissen; schließlich schien es bei dieser Sache um ihn zu gehen. »Und welche Gründe?«
O’Rorke wandte den Blick, er schien zu zögern. »Nun gut«, sagte er dann, »du sollst es erfahren. Eigentlich wollte ich es dir erst mitteilen, wenn ich mir ganz sicher wäre. Aber ich habe wohl keine Wahl, wenn ich dieses sinnlose Blutvergießen verhindern will.«
Nick verstand noch immer nicht. »Wovon sprecht Ihr, Pater?«
»Ich spreche von dem Medaillon, das du um den Hals trägst, Junge. Du sagtest, dein Vater habe es dir gegeben …«
»Der Mann, den ich liebte wie meinen Vater«, verbesserte Nick. »Kurz vor seinem Tod eröffnete er mir, dass er nicht mein leiblicher Vater sei. Und er gab mir dies.« Er nahm das Schmuckstück ab und hielt es hoch, dass es im Widerschein des Feuers blitzte.
»In diesem Medaillon«, sagte Pater O’Rorke laut, »befindensich zwei Bilder. Das eine zeigt den gewundenen Drachen – jenen Drachen, der sich auch um den Bug der Seadragon rankt. Das andere zeigt das Porträt einer jungen Frau, in der ich keine andere als Lady Jamilla zu erkennen glaube.«
»Lady Jamilla …«
Wie eine Welle wogte der Name durch die Reihen der Piraten, wurde hier und dort ungläubig gemurmelt. Den Bukanieren schien er etwas zu sagen, Nick hingegen hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, was hier vor sich ging. Er sandte O’Rorke einen hilflosen Blick, worauf sich der Pater erbarmte.
»Mein lieber Junge«, sagte er, »wenn es wahr ist, was ich vermute, dann brauchst du nicht länger nach deinen Wurzeln zu suchen, denn du hast sie bereits gefunden. Der Herr hat dich zu uns geführt nach all den Jahren – doch leider zu spät.«
»Zu spät wofür?«
Der Pater lächelte. Darauf nahm sein Gesicht einen seltsamen Ausdruck an, und sein Blick schien in weite Ferne zu reichen. »An einem Septembertag des Jahres 1673«, berichtete er, »segelte ein Schiff, von England kommend, durch die Luvpassage. An Bord war ein junger britischer Lord, der den Auftrag hatte, im Auftrag der Krone in den Kolonien nach dem Rechten zu sehen und das Treiben der Freibeuter zu unterbinden, die sich nach dem Ende des Krieges gegen Spanien dort breit gemacht hatten. Mit ihm reisten seine junge Frau und sein kleiner Sohn, sowie ein Gottesmann, der dafür bürgt, dass all dies wirklich so geschehen ist. Lord Clifford Graydon, so der Name des Adligen, der im königlichen Auftrag reiste, war ein mutiger Mann und von großer Unerschrockenheit, der entschlossen war, mit aller Härte gegen die Piraten vorzugehen. Eine Ironie des Schicksals wollte es jedoch, dass er selbst ein Opfer der Seeräuber wurde.«
»Wie das?«, fragte Nick.
»Das Schiff wurde angegriffen, es kam zu einem erbitterten Gefecht auf See, das der Lord schwer verletzt überlebte. Seine junge Frau und sein kleiner Sohn jedoch verschwanden spurlos. Zusammen mit dem Mönch, der ebenfalls mit dem Leben davongekommen war, begab sich Lord Clifford auf die Suche nach ihnen. Er gab sein Amt und seine Privilegien auf und
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