Die Erben der Schwarzen Flagge
immer noch schmäler, krummer und schäbiger wurden. Betrunkene waren hier kaum noch anzutreffen, dafür umso mehr Ratten. In Rudeln rotteten sie sich zusammen und ergriffen quiekend die Flucht, sobald Nick und Elena sich ihnen näherten.
»Wohin führt Ihr mich?«, erkundigte sich die Tochter des Conde angewidert. »Genügt es nicht, dass Ihr mich in diesen Sündenpfuhl verschleppt habt? Müsst Ihr mich jeder Ratte auf dieser Insel einzeln vorstellen?«
»Keine schlechte Idee«, versetzte Nick trocken. »Ich bin sicher, die Tiere erkennen ihresgleichen.«
Elena ließ ein entrüstetes Schnauben vernehmen, zu mehr war sie in Anbetracht des anstrengenden Aufstiegs nicht in der Lage. Zwar waren Bahnen aus Segeltuch über die Gassen gespannt, um das grelle Sonnenlicht fern zu halten. Aber dies hatte zur Folge, dass sich Wände und Pflastersteine voll von drückender Hitze sogen und die Gasse in einen wahren Backofen verwandelten.
»Warum schleppt Ihr mich hierher?«, fragte sie angesichts ihrer nachlassenden Kräfte und der immer schäbiger werdenden Umgebung.
»Ich will Euch etwas zeigen.«
»Was könnte das wohl sein? Hat diese von aller Tugend verlassene Stadt ein noch hässlicheres Gesicht? Eines, das ich noch nicht gesehen habe? Ich kann es mir kaum vorstellen.«
»Dennoch ist es so«, gab Nick zurück. Nach einigen Schritten blieb er stehen und deutete auf den Eingang einer windschiefen Hütte, vor dem ein schäbiger, mottenzerfressener Vorhang hing.
»Was ist das?«, fragte Elena.
»Die Antwort auf Eure Frage«, erwiderte Nick rätselhaft und schaffte es, ihre Neugier zu wecken.
Zaghaft wagte Doña Elena sich vor und zog den Vorhang beiseite. Sie erschrak, als sie die schmutzigen, elenden Gestalten erblickte, die im Dunkel der Hütte beieinander hockten und zusammenzuckten, als Tageslicht auf sie fiel. Frauen und Alte waren darunter, aber auch Kinder, die fast nackt waren und mager bis auf die Knochen. Dazu einige Männer, die verstümmelt und verunstaltet waren. Dem einen fehlten die Ohren, ein anderer hatte dort, wo sich einst seine rechte Hand befunden hatte, nur noch einen Stumpf.
Elena prallte zurück, aber Nick stand hinter ihr, schob sie unbarmherzig in die Hütte. »Dies, Mylady«, erklärte er, »ist das hässlichste Gesicht von Tortuga: die Armut. Alles, was diesen armen Teufeln geblieben ist, ist das nackte Leben, und in den meisten Fällen tragen spanische Herren die Schuld daran. Was sagt Ihr nun? Ertragen Eure Augen so viel Elend?«
Die Condesa wandte den Blick ab, sie wusste darauf nichts zu erwidern. Ein alter Mann mit tiefen Narben im Gesicht erhob sich und kam auf die beiden zu. »Bitte, Herr«, flehte er, »tut uns nichts zuleide. Wir sind gestraft genug, und es gibt nichts, was Ihr bei uns holen könntet.«
»Ich weiß, Alter, ich weiß«, gab Nick beschwichtigend zurück und griff kurzerhand in den Beutel, den er am Gürtel trug. Er holte einige Silberstücke hervor und warf sie auf den Boden, sodass sie klirrend umhersprangen. Sofort lasen die Kinder sie auf.
»Danke, Herr, danke!«, rief der Alte und lächelte, und anseinen blicklosen Augen erkannte Elena, dass er nichts sehen konnte. Den Narben nach zu schließen, war er geblendet worden – die übliche Strafe für Spione und Verräter.
»Schon gut«, sagte Nick, »und merkt euch eins: Die Herrschaft der Spanier wird nicht ewig dauern. Ihr Reich hat den Zenit der Macht längst überschritten. Nicht mehr lange, und ihr werdet zurückkehren können in eure Heimat.«
»Ach, Herr«, klagte der Blinde, »wir haben schon zu oft vergeblich gehofft, als dass wir es noch glauben könnten. Aber verratet uns, wer Ihr seid. Wessen Herz ist groß genug, dass er den Armen und Ausgestoßenen von Tortuga so viel Güte zuteil werden lässt?«
»Ein Freund«, sagte Nick nur, und einige der Versammelten verbeugten sich bis zum Boden, um ihm zu danken. Nick wurde verlegen, sein Gesicht verfärbte sich rot. Noch einmal griff er in den Beutel und verteilte weitere Silberstücke, dann verließ er mit Elena die Hütte.
Am Ende der Gasse mit den Baracken erstreckte sich ein schmaler Pfad, der um die Bucht herum und zu einem von Palmen umgebenen Felsplateau führte, von dem aus sich ein atemberaubender Ausblick auf den Hafen und die türkisblaue See bot. Nick erinnerte sich, vor vielen Jahren schon einmal hier oben gestanden zu haben, zusammen mit dem alten Angus Flanagan, der ihm beim Anblick der endlos weiten See erklärt hatte, dass er frei sei
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