Die Erben der Schwarzen Flagge
vor ihm und starrte ihn an; sie schien auf einmal nicht zu wissen, was sie in ihm sehen sollte, den Piraten oder den Rebellen. Ihre kleinen Hände ballten sich zu Fäusten, ihre Brust hob und senkte sich heftig.
»Denkt, was Ihr wollt«, presste sie schließlich zwischen bebenden Lippen hervor. »Ihr seid nur ein gemeiner Pirat, Nick Flanagan, nichts weiter. Weder steht es Euch zu, über meinen Vater zu urteilen, noch werde ich zulassen, dass Ihr Eure Lügen über ihn verbreitet. Es war eine törichte Idee, Euch hierher zu begleiten. Ich hätte wissen müssen, was Ihr plant. Bringt mich zurück in mein Quartier. Dort werde ich bleiben, bis das Lösegeld meines Vaters eintrifft. Dann werden wir sehen, ob Ihr ein Ehrenmann seid.«
Damit ließ sie ihn stehen und verließ das Plateau über denschmalen Pfad, den sie heraufgekommen waren. Mit einer Mischung aus Wut und Betroffenheit blickte Nick ihr hinterher. In seinem Innersten hatte er die Hoffnung gehegt, dass Elena de Navarro mehr war als ein verwöhntes Gör aus wohlhabender Familie; dass ihr Wesen ihrem engelsgleichen Aussehen entsprach und sich hinter ihrem Titel und dem geschliffenen Benehmen ein zartfühlender Mensch verbarg. Aber er hatte sich wohl geirrt, und an der Enttäuschung, die er empfand, trug niemand anderer Schuld als er selbst. Was war er für ein Narr gewesen! Hatte er wirklich gedacht, dass sie ihm Glauben schenken würde? Ihm, einem schmutzigen Piraten? Dass sie all die bequemen Lügen, die man ihr von Kindesbeinen an erzählt hatte, kurzerhand vergessen würde? All die Jahre der Erziehung, in denen man ihr eingeredet hatte, dass sie einem privilegierten Stand angehörte, dessen angestammtes Recht es war, über diesen Teil der Welt zu herrschen?
Mürrisch folgte Nick ihr die Gasse hinab. Wenn sie unbedingt wie eine Gefangene behandelt werden wollte, dann sollte sie es so haben. Ab sofort würde sie ihr Quartier nicht mehr verlassen. Nick würde es aufgeben, ihr seine Beweggründe erklären zu wollen, und sich darauf beschränken, ihren Vater um seine Dublonen zu erleichtern. Auf diese Weise würde er wenigstens ein wenig von dem Unrecht wieder gutmachen können, das der Conde in seiner Gier begangen hatte.
Weshalb, fragte sich Nick, kümmerte es ihn überhaupt, was sie über ihn dachte? Spielte es eine Rolle, ob sie verstand, was ihn bewegte? In seinem Innersten kannte er die Antwort auf diese Frage.
Und sie erschreckte ihn.In den Tavernen, Bordellen und Spelunken, die sich im Hafen von Cayenne aneinander reihten, ging es hoch her. Bis auf Pater O’Rorke, Unquatl und einige andere, die an Bord geblieben waren, um die Seadragon zu bewachen, hatte Nick Flanagan der gesamten Mannschaft Landgang gewährt. Für die befreiten Sklaven bedeutete das, zum ersten Mal nach Jahren der Gefangenschaft wieder auf freiem Fuß zu sein und tun und lassen zu können, was ihnen beliebte, und entsprechend war ihr Übermut.
Die Iren und Schotten tanzten auf den Tischen und sangen dazu, die Portugiesen suchten Zuflucht in den Armen der Freudenmädchen, die Holländer frönten dem Würfelspiel. Und alle taten sie sich an fetten Speisen gütlich, die die erfreuten Wirte ihnen auftrugen. Nick hatte jedem der befreiten Sklaven ein paar Dublonen überlassen, sodass sie sich ein paar Tage lang jeden Wunsch erfüllen konnten – eine geringe Entschädigung in Anbetracht der Hölle, die sie durchlebt hatten. Die Männer waren dennoch dankbar dafür und genossen das Geschenk der wiedererlangten Freiheit in vollen Zügen. Es flossen Ströme von Schnaps und Rum, und es wurde ein süßes Kraut geraucht, das aus fernen Ländern stammte und die Sinne benebelte.
Jenseits der dichten Rauchschwaden, die durch den Schankraum einer der Spelunken zogen, saß McCabe und schaute dem Treiben belustigt zu.
»Arh«, meinte er, »nun sieh dir das an. Noch vor ein paar Tagen hatten diese armen Teufel nichts als das nackte Leben – jetzt sind sie voll gefressen und glücklich und leben wie die Maden im Speck. Der Käpt’n hatte Recht. Es war ’ne gute Sache, diese Mateys zu befreien – oder wie denkst du darüber, Joe?«
Sein Gegenüber am Tisch taxierte ihn aus schmalen Augen. Bei alldem Ärger, den er runterzuspülen hatte, hatte Cutlass Joe dem Rum hemmungslos zugesprochen; sein Blick war glasig undausdruckslos, und sein Atem allein hätte genügt, um eine ganze Stückmannschaft betrunken zu machen.
»Wie ich darüber denke?«, erwiderte er lallend. »Ich will dir sagen, wie ich
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