Die Erben des Terrors (German Edition)
Grund für ein weiteres Glas Rum – bis zum Herbst sollte seine Leber das schon durchhalten, dachte er sich.
Eine weitere Stunde später, die Sonne hatte die Luft schon fast auf die für den Tag üblichen dreißig Grad erhitzt, fühlte sich Rybak bereit, dem Protokoll zu folgen. Er ging wieder nach unten in den Salon, kniete sich auf den Boden. Er klappte ein Brett der Bodenverkleidung vor ihm hoch und sah den alten Tresor. Das Kunstharz, mit dem 1963 die besten Schiffsbauer seines Landes den Stahltresor an den Rumpf des Aluminiumbootes laminiert hatten, war fest wie Beton. Um den Tresor zu stehlen bräuchte man einen Presslufthammer, und wahrscheinlich würde man eher das Boot versenken als ihn herauszubekommen.
Die Tresortür hingegen hatten nicht die besten Ingenieure seines Landes g ebaut. Oder zumindest nicht die besten Metallgießer, denn die Drehvorrichtung zum Einstellen der Kombination hakte seit zwanzig Jahren. Die Innenmechanik schien aus besserem Material zu sein, dennoch war es keine Freude, den Tresor zu öffnen. Aber dafür gab es, wie für viele Teile auf einem Boot mit Metallteilen im Salzwasser, Multifunktions-Kriechöl.
Rybak sprühte eine unvernünftig groß wirkende Menge Kriechöl auf das Schloss und nahm die goldene Kette ab, die er immer um seinen Hals trug. An der Kette hing ein stählerner Schlüssel, glatt geworden von neunundvierzig Jahren Reibung an Rybaks Haut. Er passte aber immer noch in das Schloss, als wäre er neu.
Ein paar Minuten später, nachdem das Öl seine Aufgabe erfüllt hatte und alles wieder geschmeidig zu laufen schien, drehte Rybak das Zahlenschloss ein paar Mal im Kreis, bis sich das Hakeln weitgehend erledigt hat te. Dann stellt er die erste Zahl ein: Dreimal rechtsherum auf 09. Zweimal linksherum auf 05. Einmal rechtsherum auf 63.
Teil I
Nicht mehr so Böse wie früher
22. April 2011
38° 53’ 47.35” Nord, 77° 01’ 12.99” West
E Street & 6th, Washington, DC, USA
Der Konferenzraum von MLC International war im schlichten, aber edlen Stil gehalten. Ein renommierter Möbeldesigner aus Chicago, den Philip Lowell aus Collegezeiten kannte, hatte das Mobiliar entworfen. Ein dunkelbrauner Tisch aus sieben Zentimeter dicker Amerikanischer Walnuss bildete das zentrale Element. Zweieinhalb Meter breit und acht Meter lang hatten acht Arbeiter größte Mühe gehabt, die fast eine Tonne schwere Tischplatte in den Raum zu bringen. Die Stühle hatte der Designer einige Jahre zuvor für die Firma Knoll entworfen, sie waren einer der Bestseller geworden – trotz oder aufgrund des Stückpreises von über dreitausend Dollar.
Z ehn dieser Stühle standen mit großzügigen Abständen um den Tisch herum. Jeder Einzelne, der an dem Konferenztisch Platz nahm, hatte genug Fläche zur Verfügung, um vernünftig zu arbeiten. Zumindest normalerweise.
An diesem Freitagabend waren neben Lowell, der das „L“ zum Firmennamen be igetragen hatte, Alan Creyghton, der zweite der drei Gründungspartner, sowie ein Senior Partner, Andrew Apton, und ein Junior Partner, Chandima Rajapatirana, anwesend. Trotzdem war der Tisch bedeckt mit Unterlagen, das große Whiteboard an der westlichen Wand vollgeschrieben. In jeder Ecke stand ein mit Wörtern, Linien und Pfeilen gefülltes Flipchart. Die meisten Fenster des Raumes waren mit bereits beschriftetem Flipchart-Papier zugeklebt. Der Beamer, der die Ostwand beschien, zeigte den Bildschirm von Chandima Rajapatirana.
Lowell öffnete die Glastür zum Konfere nzraum mit der Schulter, da er in den Händen einen Vierertray Kaffee trug, den er gerade vom Starbucks an der Kreuzung der E Street einen Block westlich geholt hatte. Die zwei Minuten, die er zum Coffeshop lief, waren genau die Zeit, die er brauchte, den Kopf wieder freizubekommen. Und um 21.30 Uhr Abends, am Wochenende, arbeitete auch die bestbezahlteste Sekretärin nicht mehr.
„Einmal Espresso Macchiato für dich, Alan“, sagte Lowell, während er seinem langjährigen Geschäftspartner den heißen Becher auf irgendwelche nicht allzu wichtig wirkenden Unterlagen stellte , wohl wissend, dass sie wichtig waren. Zwei Meter weiter links wiederholte sich der Monolog mit einem Cappuccino für Andrew, auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches mit einem Skinny Cinnamon Dolce Latte für Chandima.
Ein Skinny Cinnamon Dolce Latte ist ein mit Zimtsirup aufgewerteter Latte Macchiato ohne Zucker und mit fettarmer Milch und schmeckt scheußlich. Aber, dachte Lowell weiter, kein Zucker und
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