Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
nachzutrauern.
Wie erwartet fand sie Henry, der seit zwanzig Jahren als Chauffeur für sie arbeitete und der Neffe ihrer Haushälterin
war, an der Theke des Courthouse Café, wo er mit Ruby plauderte. Bei Marys Eintreten verstummten alle Gespräche. Ihre Anwesenheit fiel immer auf. Ein Farmer im Arbeitsanzug sprang von seinem Platz auf, um ihr die Tür aufzuhalten, und sie sprach kurz mit mehreren Geschäftsleuten, an deren Tischen sie vorbeikam.
»Wie geht’s, Miss Mary?«, begrüßte Ruby sie. »Wollen Sie mir den Gauner hier vom Hals schaffen?«
»Erst mal nicht, Ruby.« Mary signalisierte Henry, dass er auf seinem Hocker sitzen bleiben solle. »Ich hoffe, Sie ertragen ihn noch eine Weile. Ich möchte ein paar Leute treffen und mich ein bisschen mit ihnen unterhalten. Bestellen Sie sich ruhig eine weitere Tasse Kaffee, Henry. Es dauert nicht lange.«
Henrys Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. Es war Zeit für das Mittagessen bei Sassie. »Sie wollen in dieser Hitze spazieren gehen, Miss Mary? Halten Sie das für klug?«
»Nein, aber in meinem Alter darf ich mir die eine oder andere Dummheit erlauben.«
Draußen auf dem Gehsteig sah Mary sich erst einmal um. Ihr fielen die vielen neuen Läden auf, die in den vergangenen Jahren hier eröffnet hatten. Howbutker war ein Anziehungspunkt für Touristen geworden. Nachdem Magazine wie Southern Living und Texas Monthly die antikisierende Architektur und die regionale Küche sowie die sauberen Toiletten gelobt hatten, waren an den Wochenenden immer mehr erholungsuchende Yuppies aufgetaucht. Der Ort konnte sich kaum retten vor Anträgen auf den Umbau von historischen Gebäuden zu Pensionen und die Errichtung von kommerziellen Monstern, die den Vorkriegscharme von Howbutker zerstören würden. Dem Stadtrat, dem Amos angehörte und an dessen Sitzungen Percy und Mary als Ehrenmitglieder teilnahmen, war es gelungen, alle Motels, Fast-Food-Lokale und Discounter vor die Stadtgrenzen zu verbannen.
Lange wird das allerdings nicht mehr gehen, dachte Mary voller Bedauern und betrachtete eine neu eröffnete Boutique auf der anderen Seite des Circle, die von einer eleganten New Yorkerin geführt wurde. Ihre laute Art und ihr Akzent unterschieden sie von den übrigen Ladenbesitzern. Mary war klar, dass der Ort bald mehr ihres Schlags anlocken würde. Und wenn die alte Garde erst einmal abgelöst wäre, läge die Erhaltung Howbutkers in den Händen von Leuten wie Gilda Castoni und Max Warner, dem sympathischen Chicagoer, dem die neue, ziemlich beliebte Karaoke-Bar am anderen Ende der Straße gehörte.
Mary verzog wehmütig den Mund. Eigentlich sollte sie dankbar sein, dass solche Zugezogenen, die vor schlechter Luft, Kriminalität und dichtem Verkehr geflohen waren, Howbutkers Lebensweise eifriger bewahren würden als die Nachkommen der ursprünglichen Siedler, zu deren letzten verbliebenen Matt Warwick gehörte. Und Rachel …
Nein, bohr nicht in dieser offenen Wunde herum.
Sie versuchte, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Von René Taylor, der Postmeisterin, hatte sie sich – ohne dass ihre alte Freundin das ahnte – bereits verabschiedet, als sie ein Päckchen aufgab. Nun wollte sie auch ein letztes Mal bei Annie Castor, der Blumenhändlerin, vorbeischauen und bei James Wilson, dem Direktor der First State Bank. Leider befanden sich der Blumenladen und die Bank an den entgegengesetzten Enden des Platzes, und Mary besaß nicht mehr die Kraft, beide aufzusuchen, weil sie zu Hause noch in den Speicher hinaufwollte, zu Ollies altem Militärkoffer. Sie entschied sich für die Bank. Dort könnte sie einen Blick in ihr Schließfach werfen. Vielleicht hatte sie ja vergessen, etwas Wichtiges daraus zu entfernen.
Als sie am Friseursalon vorbeikam, nickte sie durchs Schaufenster dem Inhaber Bubba Speer zu. Der ließ sofort seinen
Kunden, der mit Umhang auf seinem Stuhl saß, im Stich, um zur Tür zu eilen und Mary nachzurufen: »Hallo, Miss Mary! Wie schön, Sie zu sehen. Was führt Sie in die Stadt?«
Mary blieb stehen, um seinen Gruß zu erwidern. Bubba trug einen kurzärmeligen weißen Friseurkittel, unter dem eine ausgeblichene Tätowierung hervorlugte. Vermutlich eine Erinnerung an den Krieg, dachte Mary. Korea oder Vietnam? Wie alt war Bubba eigentlich? Sie blinzelte verwirrt. Mary kannte Bubba Speer sein ganzes Leben lang, und eine Tätowierung war ihr an ihm noch nie aufgefallen. Offenbar hatte sich ihre Wahrnehmung in letzter Zeit verschärft.
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