Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
eine Flucht stand außer Frage. Sie hatte weder Geld noch irgendeine Möglichkeit, an welches heranzukommen, und keinen Zufluchtsort, selbst wenn sie die nötige Kraft besessen hätte. Mary war ihre Mutter aufrichtig reumütig erschienen; offenbar wollte sie ihr Verhalten der vergangenen Jahre wiedergutmachen.
»Ist Ihnen aufgefallen, dass alle Familienfotos bis auf das von Mister Miles in Uniform vom Kaminsims verschwunden sind?«, fragte Sassie.
»Ja. Die hat sie nach dem Tod von Papa weggenommen.«
»Ihre Mama kann mich bitten, Feuer im Kamin zu machen wie heute Morgen, und sie kann mich die Vorhänge zurückziehen lassen und sich herausputzen, aber solange die Bilder von Ihnen und Ihrem Papa und der Familie nicht wieder da oben stehen, glaube ich ihr kein Wort.«
Mary nickte nachdenklich. »Ja, das wäre in der Tat ein Zeichen ihrer Aufrichtigkeit«, pflichtete sie Sassie bei. Allerdings bezweifelte sie, dass sie diese Gesichter jemals wieder aus den Silberrahmen auf dem Kaminsims ihrer Mutter würde lächeln sehen.
ACHTZEHN
A ls Mary später am Vormittag im einzigen Einspänner, der in den besseren Kreisen von Howbutker noch verwendet wurde, zur Ledbetter-Plantage fuhr, überlegte sie abwechselnd, wodurch der neueste Stimmungsumschwung ihrer Mutter und Jarvis Ledbetters Einladung zum Lunch bedingt sein könnten. Es war allgemein bekannt, dass ein Bankenkonsortium von der Ostküste, das immer mehr Farmland im Baumwollgürtel aufzukaufen beabsichtigte, dem alten Herrn ein Angebot für seine Plantage gemacht hatte. Seine einzigen Kinder, Zwillingstöchter, hatten für ihn enttäuschende Männer geheiratet, und er hatte mehr als einmal gesagt, er würde sein Anwesen Fair Acres lieber verkaufen und in großem Stil vom Erlös leben, als es seinen Töchtern und deren Gatten zu hinterlassen. Mary vermutete, dass er sie eingeladen hatte, um ihr eine Chance zum Kauf seiner Plantage zu bieten.
Bei Fair Acres handelte es sich um ein langes, schmales mit Baumwolle bepflanztes Grundstück zwischen Somerset und dem Streifen entlang des Sabine River, den Miles geerbt hatte. Darauf befand sich ein ansehnliches Herrenhaus. Mary war bereits im Morgengrauen aufgestanden, um die finanzielle Machbarkeit einer solchen Transaktion zu überprüfen, in deren Rahmen der Sabine-Streifen mit Somerset vereint würde und ein angenehmer Zweitwohnsitz außerhalb des Toliver-Stammgrundes dazukäme.
Es war ein lebenslanger Traum ihres Vaters gewesen, die Ländereien zu erwerben, die Somerset teilten. Er hatte sich
ein Meer von Toliver-Baumwolle vorgestellt, das ununterbrochen von einer Grundstücksgrenze bis zur anderen reichte, doch egal, wie Mary auch mit den Zahlen jonglierte: Die Kladde zeigte ihr, dass dieser Traum sich nicht verwirklichen ließ. Die für den Notfall gedachten Rücklagen konnte sie nicht auflösen, weil die Blutsauger in Boston, die nur auf ihren Ruin warteten, auch bei einer Missernte bezahlt werden mussten. Den Gefallen, pleitezugehen, würde sie ihnen nicht tun; sie hatte gespart und Opfer gebracht. Schon in zwei Jahren wären die Tolivers wieder alleinige Eigner von Somerset.
Mary sehnte diesen Tag herbei. Dann würde sie ein rauschendes Fest veranstalten, um Howbutker zu beweisen, welch weise Entscheidung ihres Vaters es gewesen war, Somerset ihr zu hinterlassen. Alle würden sehen, dass es sich unter ihrer Leitung wieder zu einer mächtigen Plantage entwickelt hatte, und der Haushalt würde sich von der durchlittenen Zeit der Not erholen. Sie würde eine Hilfe für Sassie einstellen und moderne Toiletten einbauen lassen, die den Abtritt in der hintersten Ecke des Gartens und die Nachttöpfe unter den Betten ersetzten. Vielleicht würde sie sogar ein Automobil erwerben und ihren treuen Shawnee, der seinen Einspännerkollegen überlebt hatte, auf sein Altenteil schicken. Auch ihrer Mutter würde es an nichts mehr mangeln. Sie könnte erhobenen Hauptes durch den Ort gehen, mit dem elegantesten Hut, den es für Geld zu kaufen gab. Mary kannte Darla gut genug, um zu wissen, dass sie sich, wenn sie erst wieder nach der neuesten Mode gekleidet wäre und das Haus in seiner früheren Pracht erstrahlte, keine Gedanken darüber machen würde, wer sie mit all den schönen Dingen versorgte. Sie wäre genauso stolz auf ihre Tochter wie früher auf ihren Mann.
Doch wenn Jarvis Ledbetter vor dem Ende der Ernte Geld
sehen wollte, musste Mary sein Angebot ausschlagen. Ihre Geldreserven durfte sie auf keinen Fall aufs Spiel
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