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Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Titel: Die Erben von Somerset: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leila Meacham
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dass sie schon zu ihm kommen würde, wenn sie sich nur einsam genug fühlte? Oder hielt er eine Verbindung zwischen ihnen inzwischen für aussichtslos? Sie musste tagtäglich an die Worte auf dem Zettel in den Handschuhen denken: Für die Hände, die ich den Rest meines Lebens halten möchte …
    Mary zögerte kurz, bevor sie an die Tür ihrer Mutter klopfte, weil ihr vor deren rauem, kläglichem »Herein« graute, das jedem Besuch voranging. Wenn Mary es hörte, ärgerte sie sich jedes Mal. Man brauchte nur zu sehen, wie Ollie seine Situation bewältigte, um Darla Toliver für ihr Selbstmitleid zu verachten. Ollie hätte nie und nimmermehr gejammert! Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt in Dallas hatte er in der Verwaltung des DuMont Department Stor e angefangen und schwang seitdem seine Krücken mit Onyx-Silber-Griffen wie modische Accessoires seiner stets makellosen Kleidung.
    »Herein!«, hörte Mary Darla mit kräftiger, wohltönender
Stimme auf ihr Klopfen antworten. Verwundert öffnete Mary die Tür und lugte vorsichtig hinein.
    »Mutter … wie hübsch du aussiehst«, stotterte Mary. Sie erinnerte sich nicht mehr, wann sie begonnen hatte, sie so zu nennen. Die Distanz zwischen ihnen, die Jahre der Entfremdung, hatten wohl dazu geführt. Mama war ein Kosename, Mutter einfach nur eine Anrede.
    Eigentlich war »hübsch« nicht das richtige Wort. Mary bezweifelte, dass ihre Mutter nach dem langjährigen Raubbau an ihrer Gesundheit jemals wieder hübsch aussehen würde. Doch heute wirkte sie, so aufrecht im Bett sitzend, im Rücken ein paar saubere Kissen, gewaschen und gekämmt und mit einem feinen Négligé der Art bekleidet, wie sie es zu Lebzeiten ihres Mannes getragen hatte, frisch und erholt. Mary näherte sich ihrem Bett. »Gibt’s einen besonderen Anlass?«, erkundigte sie sich und bemerkte schockiert, dass die Haare ihrer Mutter, von Fett und Schweiß befreit, nicht mehr dunkel, sondern von grauen Strähnen durchzogen waren.
    Darla antwortete mit einem natürlichen, glockenhellen Lachen, wie Mary es schon Jahre nicht mehr von ihr gehört hatte, und deutete kraftlos in Richtung Fenster. Sassie hatte die Vorhänge zurückgezogen, so dass die schwache Januarsonne hereinscheinen konnte, das erste Licht von draußen seit dem Tod von Marys Vater. »Das neue Jahr ist der Anlass. Ich möchte es feiern, aufstehen, dieses Zimmer verlassen. Ich möchte draußen in der frischen Luft spazieren gehen und die Sonne auf meiner Haut spüren. Ich möchte wieder das Gefühl haben, lebendig zu sein. Glaubst du, dafür ist es schon zu spät, Mary, mein Lämmchen?«
    Mein Lämmchen. Es war vier Jahre her, dass sie dieses Kosewort aus dem Mund ihrer Mutter gehört hatte. Mary schnürte sich die Kehle zu. »Mama …«, murmelte sie traurig. Nicht zum ersten Mal erlebte sie solche abrupten Stimmungsumschwünge
ihrer Mutter, die sich bisher samt und sonders als Listen entpuppt hatten, um an eine versteckte Flasche zu kommen.
    »Mary, ich weiß, du bist skeptisch«, sagte Darla und bedachte ihre Tochter mit einem liebevollen Blick. »Du denkst, ich möchte nur hier raus, weil ich mir irgendwie einen Drink organisieren will, aber ehrlich gesagt sind mir zu diesem Thema die Ideen längst ausgegangen. Ich … würde mich nur gern wieder wie ein Mensch fühlen, Liebes.«
    Mary traten Tränen in die Augen. Liebes. Wie sehr sie sich nach ein wenig Zuneigung von ihrer Mutter sehnte!
    »Ach, Liebes, ich weiß …« Darla schlug die Decke zurück und schwang ihre dünnen, leichenblassen Beine auf den Boden. »Ich weiß … ich weiß«, wiederholte sie und tappte in ihrem durchscheinenden Nachthemd unsicher auf Mary zu. »Komm zu Mama, geliebtes Kind.« Mary flüchtete sich in ihre Arme und ließ sich streicheln und liebkosen, als wäre sie ein kleines Mädchen, das sich beim Spielen das Knie aufgeschlagen hat. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass dies nur wieder einer der Tricks ihrer Mutter war.
    Als sie sich auf die Chaiselongue setzten, fragte sie, ihre Hand haltend: »Was möchtest du, Mutter? Was würde dir Freude machen?«
    »Als Erstes würde ich gern ein bisschen im Haus herumgehen, damit meine Beine kräftiger werden. Und dann, habe ich mir gedacht, könnte ich Toby im Garten helfen. Von Sassie weiß ich, dass er Kartoffeln setzen will.«
    Mary konnte im Blick ihrer Mutter nichts von ihrer früheren Verschlagenheit entdecken. Wusste sie denn nicht mehr, dass Toby die letzte Flasche Bourbon schon vor Jahren aus

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