Die Erben
dir?“, wollte sie sofort wissen und legte ihre Hände an mein Gesicht. Prüfend sah sie mich an und bewegte meinen Kopf hin und her. Ich rechnete beinahe damit, sie könnte mir gleich noch die Kiefer auseinander schieben, um meine Zähne zu kontrollieren.
„Mir geht es gut“, versicherte ich deswegen schnell und wand mich aus ihrem Griff. „Wirklich.“
„Was ist denn letzte Nacht nur passiert?“, fragte sie atemlos und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. „Wir waren krank vor Sorge.“
Ich schob nun doch meine Beine über die Bettkante und wischte mir den Schlaf aus den Augen.
„Wir haben wohl einfach übertrieben“, meinte ich und zuckte mit den Schultern.
Was hätte ich auch sonst sagen sollen?
„Übertrieben?“, wiederholte Mum ungläubig. „Du wurdest bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert.“
„Ja“, entgegnete ich gedehnt und hoffte, mir würde schnell eine bessere Erklärung einfallen. „Versteh‘ ich auch nicht.“
Mann Lyn
, schoss es mir verärgert durch den Kopf.
Werd bloß kein Anwalt mit deinem Einfallsreichtum.
Mum machte so viel Erklärungskunst offensichtlich auch erst einmal sprachlos. Sie starrte mich nur an, mit einer Mischung aus Verblüfftheit und Ärger.
„Ist Sarah auch hier?“, wechselte ich das Thema und versuchte mich an einem Lächeln.
Das war eigentlich zur Auflockerung gedacht, reizte Mum aber nur noch mehr.
„Das ist nicht witzig, Fräulein“, ermahnte sie mich und ich zuckte zurück.
„Ich weiß, dass das nicht witzig ist“, meinte ich ebenso ernst. „Aber was erwartest du von mir? Sarah und ich waren in diesem Schuppen gesessen und haben Sekt getrunken. Vermutlich eben zu viel. Ich kann dir nicht erklären, warum wir deswegen einfach umgekippt sind.“
„Und was ist mit dem Jungen?“, wollte sie barsch wissen und ich runzelte die Stirn.
„Was für ein Junge?“
„Der Sohn des Bürgermeisters“, antwortete sie und mein Mund klappte auf.
„Kyle? Kyle Blackwood?“
Mum nickte und ich rutschte vom Bett runter. „Was ist mit ihm? Ist er auch hier?“
„Er ist bewusstlos mit dir und dieser Sarah eingeliefert worden“, begann Mum zu erklären. Ich schnappte mir die Jeans, die sie über einen Stuhl gelegt haben musste und zog sie mir über die Beine. „Außerdem war er verletzt und hat sich eine Schulter gebrochen.“
„Weiß jemand, warum?“, fragte ich weiter, während ich mir mein Shirt über den Kopf zog.
„Seine Mutter war heute Morgen hier und meinte, er sei gestürzt. Kannst du dir vorstellen, wie verlegen wir waren, als sie hier aufgetaucht ist? Die Frau des Bürgermeisters!“
Ich ignorierte ihre Frage. „Und wo liegt er?“
„Zwei Zimmer weiter“, meinte Mum und hob den Zeigefinger. „Aber wehe du gehst jetzt-“
Den Rest des Satzes konnte ich nicht mehr hören, da ich bereits aus dem Zimmer gestürmt war.
Ich rannte den Gang hinunter und stolperte durch die Tür zu Kyles Krankenzimmer.
Er lag aufgerichtet in seinem Bett, bekleidet in seinem Patientenhemdchen und schob sich gerade ein Brot mit Wurst in den Mund. Am Bettrand saß Sarah in einem dunkelblauen Strickkleid und löffelte einen Jogurt. Offenbar war sie schon länger wach. Sie hatte sich sogar geschminkt.
„Hi“, keuchte ich und schlug die Tür hinter mir zu.
„Lyn“, erkannte mich Kyle und strahlte. „Wie geht’s dir?“
Ich ging an sein Bett und musterte ihn. Sein Arm war komplett verbunden und lag in einer Schlinge. Er sah etwas verschlafen aus, aber sonst schien er normal.
„Das wollte ich dich gerade fragen“, erwiderte ich. „Was ist mit dir passiert?“
Sarah stand auf und stellte den leeren Jogurtbecher auf Kyles Tablett.
„Er wurde vermutlich von einem Bären angegriffen“, erklärte sie und sah mich eindringlich an. „Oder einem Berglöwen.“
Ich zog meine Augenbraue hoch. „Du meinst-“
„Genau“, unterbrach sie mich und nickte. „Wie in deiner Vision.“
Kyle lachte rau. „Ich sag’s euch, das ist so cool, dass ihr übernatürliche Kräfte habt“, meinte er. „Visionen, Gedanken lesen, Telekinese. Ihr seid wie diese
X-Men
, nur ohne die komischen Anzüge.“
„Sicher, dass er nichts am Kopf hat?“, fragte ich Sarah mit verzogenem Gesicht und Kyle lachte noch mehr.
„Der ist immer so“, winkte Sarah ab und Kyle streckte ihr amüsiert die Zunge raus.
„Und was meint er mit Telekinese?“, hakte ich weiter nach. „Kannst du das jetzt auch noch?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, aber dein
Weitere Kostenlose Bücher