Die Erbin
habt Irene Pickerings Testament noch nicht gesehen. Ihr wisst noch nicht, dass Mrs. Lettie Lang sich nicht zum ersten Mal das Vertrauen ihres Arbeitgebers erschlichen hat, um in einem Testament bedacht zu werden. Und wenn die Geschworenen das hören und sehen, werden die er wachsenen Kinder von Seth Hubbard eine Menge Geld be kommen.
Jakes prinzipientreue Verteidigung des Testaments sowie sein etwas vermessener Glaube daran, dass der Prozess in Clanton stattfinden sollte, in seinem Gerichtssaal, wurde durch eine Tragödie erschüttert, die sich in dieser Nacht noch ereignete, während eines Eissturms in der Nähe von Lake Village im südlichen Teil von Ford County. Zwei Brüder, Kyle und Bo Roston, fuhren nach einem Basketballspiel ihrer Highschool nach Hause. Kyle war der beste Aufbauspieler seiner Mannschaft; Bo ging in die zehnte Klasse der Clanton High und war Ersatzspieler. Ein Augenzeuge im Wagen hinter ihnen sagte, der Fahrer, Kyle, sei vorsichtig unterwegs gewesen, nicht zu schnell, und habe seine Fahrweise dem Straßenzustand angepasst. Dann sei ein anderes Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit über die Kuppe und ins Rutschen gekommen. Der Zeuge sah entsetzt zu, wie ein Zusammenstoß unvermeidbar wurde. Er schätzte, dass Kyle mit etwa fünfundsechzig Stundenkilometern fuhr; das andere Fahrzeug, ein alter Pick-up, sei erheblich schneller gewesen. Der Frontalzusammenstoß ließ den kleinen Toyota der Rostons durch die Luft wirbeln, bis er schließlich im Straßengraben liegen blieb. Der Pick-up drehte sich um die eigene Achse und rutschte in ein Feld. Die Straße war mit Trümmern übersät. Der Zeuge konnte rechtzeitig anhalten und leistete erste Hilfe.
Kyle starb noch am Unfallort. Bo wurde von Rettungskräften aus dem Auto befreit und ins Krankenhaus von Clanton gebracht, wo er sofort operiert wurde. Er hatte schwere Kopfverletzungen erlitten und war mehr tot als lebendig. Der andere Fahrer kam ebenfalls ins Krankenhaus, war aber nicht ernstlich verletzt. Er hatte doppelt so viel Alkohol im Blut wie gesetzlich erlaubt. Vor seinem Zimmer wurde ein Deputy postiert.
Der andere Fahrer war Simeon Lang.
Ozzie rief Jake kurz nach Mitternacht an und riss ihn aus dem Tiefschlaf. Fünfzehn Minuten später hielt Ozzie vor dem Haus, Jake rannte hinaus und stieg in den Wagen. Das Wetter hatte sich weiter verschlechtert, die Straßen waren spiegelglatt, und während sie durch die Stadt krochen, brachte ihn Ozzie auf den neuesten Stand. Der zweite Junge wurde noch operiert, aber es sah nicht gut aus. Soweit Ozzie das zum jetzigen Zeitpunkt sagen konnte, hatte sich Simeon nicht in einer Kneipe in Clanton volllaufen lassen. Lettie zufolge, die bereits auf dem Weg ins Krankenhaus war, sei er seit über einer Woche nicht zu Hause gewesen. Sie hielt es für möglich, dass er von einer längeren Tour mit dem Lastwagen zurückkommen wollte, allerdings hatte er weder Bargeld noch einen Lohnscheck dabei. Er hatte sich die Nase gebrochen, war aber ansonsten unverletzt.
»Kinder und Betrunkene haben ihren Schutzengel immer dabei«, sagte Ozzie.
Sie fanden Lettie und Portia am Ende eines langen Kor ridors, wo sie sich nicht weit von Simeons Zimmer entfernt versteckten. Beide weinten und waren völlig verstört, ja untröstlich. Jake setzte sich zu ihnen, während Ozzie wieder ging, um ein paar andere Angelegenheiten zu erledigen. Nach ein paar Minuten, in denen nur wenig gesprochen wurde, stand Lettie auf, um nach einer Toilette zu suchen. Sobald sie weg war, sagte Portia: »Vor zehn Jahren, als ich vierzehn und in der neunten Klasse war, habe ich sie angefleht, ihn zu verlassen. Damals hat er sie geschlagen. Ich habe es gesehen. Ich sagte: ›Bitte, Momma, lass uns weggehen, irgendwohin, nur weg von ihm.‹ Vielleicht hat sie es ja versucht, aber sie hatte immer Angst vor ihm. Und jetzt das. Was wird mit ihm passieren, Jake?« Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
»Es sieht nicht gut aus.« Jakes Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Wenn es seine Schuld war und wenn er tatsächlich betrunken war, wird er wegen fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr angeklagt. In einem Fall, bis jetzt jedenfalls.«
»Was für eine Strafe gibt es dafür?«
»Fünf bis fünfundzwanzig Jahre. Bei so etwas hat der Richter eine Menge Ermessensspielraum.«
»Und da kommt er nicht wieder raus?«
»Nein. Ich sehe keine Möglichkeit.«
»Halleluja. Endlich wird er sehr, sehr lang weg sein.« Sie schlug beide
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