Die Erbin
meinem ersten Jahr in Luciens Kanzlei. Er hatte mir den Auftrag gegeben, irgendwelche alten Gerichtsdoku mente zu finden. Ich habe auf ganzer Linie versagt.«
Sie erreichten den ersten Stock. Portia wusste genau, wo sie hinmussten, und Jake folgte ihr. Die Klassenzimmer waren jetzt mit Aktenschränken aus Armeebeständen vollgestopft, in denen alte Steuerunterlagen und Liegenschaftsbewertungen aufbewahrt wurden. Alles Altpapier, dachte Jake bei sich, als er die Indexangaben auf den Schubladen las. Ein Raum enthielt alte Kraftfahrzeugzulassungen, in einem anderen wurden alte Ausgaben von Lokalzeitungen archiviert. Und so ging es endlos weiter. Was für eine Verschwendung von Platz und Arbeits kräften.
In einem dunklen, fensterlosen Raum, der ebenfalls mit Aktenschränken vollgestellt war, schaltete Portia das Licht ein. Dann holte sie ein schweres Buch von einem der Regale und legte es vorsichtig auf den Tisch. Es war in dunkelgrünes Leder gebunden, das nach Jahrzehnten des Alterns und der Vernachlässigung von tiefen Rissen durchzogen war. In der Mitte stand ein einziges Wort: Prozessliste .
»Das sind Prozesslisten aus den 1920ern, genauer gesagt von August 1927 bis Oktober 1928«, erklärte Portia. Sie schlug es langsam auf und begann, die vergilbten, fast brüchigen Seiten mit großer Sorgfalt umzublättern. »Chancery Court«, sagte sie wie eine Kuratorin in einem Museum, die ihre Schätze präsentiert.
»Wie viel Zeit haben Sie hier verbracht?«, fragte Jake.
»Ich weiß es nicht. Stunden. Das Archiv fasziniert mich, Jake. An der Geschichte des Justizsystems lässt sich die Geschichte des County ablesen.« Sie blätterte noch einige Seiten um, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. »Hier ist es. Juni 1928, vor sechzig Jahren.« Jake beugte sich vor, um besser sehen zu können. Alle Einträge waren mit der Hand geschrieben, die Tinte fast verblasst. Portia fuhr mit dem Zeigefinger eine Spalte hinunter. »Am 4. Juni 1928«, sagte sie. Dann bewegte sich ihr Zeigefinger nach rechts, in die nächste Spalte. »Der Kläger, ein Mann namens Cleon Hubbard, reichte Klage ein.« Der Finger ging in die nächste Spalte. »Der Beklagte war ein Mann namens Sylvester Rinds.« Der Finger ging in die nächste Spalte. »Die Klage wurde lediglich als Liegenschaftsstreit beschrieben. In der nächsten Spalte steht der Anwalt. Cleon Hubbard wurde von Robert E. Lee Wilbanks vertreten.«
»Das ist Luciens Großvater«, erwiderte Jake. Beide standen über das Buch gebeugt da, Schulter an Schulter. »Und der Beklagte wurde von Lamar Thisdale vertreten.«
»Thisdale ist seit dreißig Jahren tot. Auf Testamenten und Urkunden sieht man seinen Namen immer noch. Wo ist die Akte dazu?«, fragte Jake, während er einen Schritt zurücktrat.
Portia richtete sich auf. »Ich kann sie nicht finden.« Sie zeigte auf den Raum. »Wenn es sie gibt, müsste sie hier sein, aber ich habe überall gesucht. Bei sämtlichen Unterlagen gibt es Lücken, und ich vermute, es liegt daran, dass das Gerichtsgebäude abgebrannt ist.«
Jake lehnte sich an einen Aktenschrank und überlegte. »Dann haben die beiden 1928 also um ein Stück Land gestritten.«
»Ja, und man kann mit Sicherheit sagen, dass es die dreißig Hektar waren, die Seth zum Zeitpunkt seines Todes besessen hat. Aus Luciens Recherchen wissen wir, dass Sylvester zu der Zeit nicht noch mehr Land besessen hat. Cleon Hubbard hat das Grundstück 1930 übernommen, und seitdem war es im Besitz der Familie Hubbard.«
»Und die Tatsache, dass Sylvester das Land 1930 noch beses sen hat, ist ein ziemlich eindeutiger Beweis dafür, dass er den Prozess von 1928 gewonnen hat. Denn sonst wäre es schon im Besitz von Cleon Hubbard gewesen.«
»Und genau das wollte ich Sie fragen. Sie sind der Anwalt. Ich bin nur die kleine Sekretärin.«
»Sie werden Anwältin sein, Portia. Ich bin nicht sicher, ob Sie dazu überhaupt noch studieren müssen. Gehen Sie davon aus, dass Sylvester Ihr Urgroßvater war?«
»Na ja, meine Mutter ist inzwischen fest davon überzeugt, dass er ihr Großvater war, dass sein einziges Kind Lois war und Lois ihre Mutter. Das würde den alten Herrn zu meinem Urgroßvater machen. Nicht dass wir uns besonders nahe gewesen wären oder so.«
»Haben Sie Lucien erzählt, was seine Vorfahren getan haben?«
»Nein. Soll ich? Aber warum? Es war nicht seine Schuld. Er war noch nicht mal geboren.«
»Ich würde es tun, nur um ihn zu quälen. Er würde sich beschissen fühlen, wenn er
Weitere Kostenlose Bücher