Die Erbin
ab wie alle Scheidungen in den letzten dreißig Jahren, moderne Regeln hin oder her.
Kritiker der neuen Regeln für Offenlegung und Prozess ablauf beklagten, die Vorverhandlung sei lediglich so etwas wie eine Generalprobe für den eigentlichen Prozess und zwinge die Anwälte dazu, sich zweimal vorzubereiten. Sie sei zeitaufwendig, teuer, lästig und außerdem restriktiv. Dokumente, Themen oder Zeugen, die bei der Vorverhandlung nicht ordnungs gemäß erwähnt wurden, konnten im eigentlichen Prozess nicht verwendet werden. Ältere Anwälte wie Lucien, die mit schmutzigen Tricks und Überraschungen arbeiteten, hassten die neuen Regeln, weil sie für Fairness und Transparenz sorgen sollten. »Bei einem Prozess geht es nicht um Fairness, Jake, bei einem Prozess geht es darum zu gewinnen«, hatte er schon tausendmal gesagt.
Richter Atlee war ebenfalls nicht sonderlich begeistert von den neuen Regeln, aber er war dazu verpflichtet, sie zu befolgen. Um zehn Uhr am Montag, dem 20. März, scheuchte er die Handvoll Zuschauer aus dem Gerichtssaal und wies den Gerichtsdiener an, die Tür zu verriegeln. Es war keine öffentliche Anhörung.
Während es sich die Anwälte auf ihren Plätzen gemütlich machten, ging Lester Chilcott, Laniers Kollege, zu Jakes Tisch und legte ein paar Unterlagen vor ihn hin. »Aktualisierte Offenlegung«, sagte er, als wäre alles reine Routine. Während Jake sich die Unterlagen ansah, rief Richter Atlee die Anwesenden zur Ordnung und sah sich die Gesichter an, um sicherzustellen, dass alle Anwälte da waren. »Mr. Stillman Rush fehlt noch«, murmelte er in sein Mikrofon.
Jakes Überraschung schlug rasch in Ärger um. In einem Abschnitt des Dokuments, in dem alle potenziellen Zeugen aufgeführt wurden, hatte Lanier die Namen von fünfundvierzig Leuten angegeben. Den Adressen nach wohnten sie überall verstreut im Südosten des Landes, vier von ihnen sogar in Mexiko. Jake kam nur eine Handvoll Namen bekannt vor; einige der Leute hatten während der Offenlegung Zeugenaussagen gemacht. Jemanden mit Informationen vollzuschütten war ein durch aus üblicher schmutziger Trick, den große Unternehmen und Versicherungsgesellschaften perfektioniert hatten. Sie und ihre Anwälte hielten Dokumente, die unter die Offenlegung fie len, bis zum letztmöglichen Moment zurück. Kurz vor dem Prozess wurden dem Anwalt der Gegenseite dann Dokumente mit mehreren Tausend Seiten zugestellt, wohl wissend, dass es ihm und seinen Mitarbeitern nicht mehr gelingen würde, sie rechtzeitig durchzuarbeiten. Wade Lanier hatte gerade einen Überraschungszeugen präsentiert – ein naher Verwandter des Dokumententricks. Die Namen von potenziellen Zeugen wurden bis zum letzten Moment zurückgehalten, und dann versteckte man den Überraschungszeugen zwischen einer ganzen Reihe überflüssiger potenzieller Zeugen, um den Gegner zu ver wirren.
Der Gegner kochte vor Wut, hatte aber plötzlich Dringenderes zu tun. »Mr. Brigance«, sprach Richter Atlee ihn an, »Sie haben zwei anhängige Anträge, einen auf Verlegung des Ver handlungsortes, einen auf Vertagung des Prozesses. Ich habe Ihre Schriftsätze und die Erwiderung der anfechtenden Parteien gelesen und gehe davon aus, dass Sie diesen Anträgen nichts hin zuzufügen haben.«
Jake erhob sich und war so klug, »Nein, Sir, ich habe nichts hinzuzufügen« zu sagen.
»Behalten Sie bitte Platz, meine Herren. Das ist eine Vorver handlung, keine formelle Anhörung. Kann ich ferner davon aus gehen, dass es bei der Suche nach Ancil Hubbard keine Fortschritte gegeben hat?«
»Ja, Sir, Sie können davon ausgehen, allerdings könnte es durchaus sein, dass wir Fortschritte machen, wenn wir etwas mehr Zeit haben.«
Wade Lanier erhob sich. »Euer Ehren, darauf würde ich gern antworten. Die Anwesenheit oder Abwesenheit von Ancil Hubbard ist in dieser Sache nicht von Belang. Die Fragestellung läuft auf das hinaus, was wir erwartet haben, auf das, was bei der Anfechtung eines Testaments immer eine Rolle spielt: Geisteszustand, Testierfähigkeit und unzulässige Beeinflussung. Ancil, falls er überhaupt noch am Leben ist, hat seinen Bruder Seth vor dessen Selbstmord Jahrzehnte nicht gesehen. Daher kann er unmöglich aussagen, wie oder was sein Bruder gedacht hat. Wir sollten daher wie geplant fortfahren. Wenn die Geschworenen zugunsten des handschriftlichen Testaments urteilen, werden Mr. Brigance und der Nachlass viel Zeit haben, um nach Ancil zu suchen und ihm hoffentlich seine fünf Prozent
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