Die Erbin
mehr wissen. Auf dem Weg zurück nach Clanton, den Krankenwagen im Schlepptau, begann Ozzie, Personen anzurufen, die möglicherweise mehr über Seth Hubbard wussten.
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Jake Brigance spähte auf die leuchtenden roten Zahlen seines Digitalweckers. Um 5.29 Uhr drückte er eine Taste und schwang vorsichtig die Beine aus dem Bett. Carla drehte sich auf die andere Seite und vergrub sich tiefer in ihre Decke. Jake tätschelte ihr den Hintern und wünschte ihr einen guten Morgen, bekam aber keine Antwort. Es war Montag, und sie würde noch eine Stunde weiterschlafen, ehe sie aus dem Bett springen würde, um in aller Eile Hanna fertig zu machen und zur Schule zu bringen. In den Sommerferien schlief sie sogar noch länger. Dann waren ihre Tage erfüllt von verschiedensten Kleine-Mädchen-Aktivitäten, je nachdem, wozu Hanna Lust hatte.
Jakes Tagesplan dagegen war ziemlich eintönig. Er stand um 5.30 Uhr auf, war um sechs im Coffee Shop und noch vor sieben im Büro. Es gab nicht viele, die morgens so früh loslegten wie Jake Brigance, wobei er sich nun, da er das reife Alter von fünfunddreißig Jahren erreicht hatte, fragte, warum er das tat. Warum er unbedingt eher in der Kanzlei sein wollte als alle anderen Anwälte der Stadt. Früher hatte er diese Zweifel nicht gekannt. Schon im Studium war es sein größter Traum gewesen, ein erfolgreicher Prozessanwalt zu werden, und diesen Traum verfolgte er so ehrgeizig wie eh und je. Doch der Alltag nagte an ihm. Seit zehn Jahren kämpfte er an dieser Front, und noch immer hatte er es mit Testamenten, Beglaubigungen und Vertragsbrüchen zu tun, nicht ein einziges anständiges Verbrechen war ihm bislang untergekommen, auch kein vielversprechender Ver kehrsunfall.
Möglicherweise hatte er den Zenit seiner Karriere bereits über schritten. Der Freispruch von Carl Lee Hailey lag drei Jahre zurück, seither hatte sich nicht mehr viel getan. Bislang hatte er die Zweifel aber immer wieder abschütteln können. Schließlich war er erst fünfunddreißig. Er war ein Kämpfer, und seine größten Siege vor Gericht lagen noch vor ihm.
Einen Hund zum Ausführen gab es auch nicht mehr, seit Max in dem Feuer umgekommen war, das ihr wunderschönes, ge liebtes und hoch verschuldetes Haus im viktorianischen Stil in der Adams Street zerstört hatte. Drei Jahre war es her, da hatte der Ku-Klux-Klan es in der Hochphase des Hailey-Prozesses im Juli 1985 in Brand gesteckt. Zuerst hatten sie ein Kreuzzeichen in den Vorgarten gebrannt, dann hatten sie versucht, das Haus in die Luft zu sprengen. Jake hatte Carla und Hanna weggeschickt, und das war eine weise Entscheidung gewesen. Einen Monat lang hatten die Klan-Leute wiederholt Mordanschläge auf ihn verübt, bis sie schließlich sein Haus anzündeten. Das Schlussplädoyer hatte er in einem geliehenen Anzug gehalten.
Das Thema Hund war zu heikel, um offen darüber zu sprechen. Sie hatten es mehrmals versucht, waren dann aber wieder davon abgekommen. Hanna wollte einen, und vermutlich wäre ein Haustier auch gut für sie, denn sie war ein Einzelkind und beklagte sich oft, dass sie immer allein spielen musste. Doch Jake und Carla – vor allem Carla – war bewusst, wer dafür zuständig sein würde, den Welpen stubenrein zu machen und hinter ihm herzuwischen, bis es so weit war. Außerdem lebten sie zur Miete, ihr Leben befand sich in einem Übergangsstadium. Vielleicht würde ein Hund etwas Normalität bringen, vielleicht aber auch nicht. Am frühen Morgen dachte Jake oft über das Thema nach. In Wahrheit hätte er selbst sehr gern einen Hund gehabt.
Nach einer schnellen Dusche zog er sich in einem kleinen Extrazimmer an, das Carla und er als Kleiderkammer benutz ten. In diesem Haus, das jemand anders gehörte, waren alle Zimmer klein. Alles war provisorisch. Die Möbel waren eine traurige Mischung aus Ramschkäufen und Flohmarktüberresten, die alle eines Tages auf dem Müll landen würden, wenn die Dinge so liefen wie geplant. Allerdings musste Jake widerstrebend zugeben, dass fast nichts klappte wie geplant. Ihre Klage gegen die Versicherung war hoffnungslos festgefahren, obwohl die Hauptverhandlung noch gar nicht begonnen hatte. Eingereicht hatte er sie sechs Monate nach dem Urteil im Hailey-Prozess, als er auf der Höhe seines Ruhms war und vor Selbstvertrauen nur so strotzte. Wie konnte eine Versicherung es wagen, ihn übers Ohr hauen zu wollen? Nur her mit der nächsten Jury, dann würde er ein weiteres spektakuläres Urteil erwirken. Die
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