Die Erbin
dadurch zu verkürzen, dass nur Wade Lanier sprach. Er schlenderte in einem verknitterten Blazer zum Rednerpult, seine Krawatte war zu kurz, und das Hemd drohte, aus der Hose zu rutschen. Das spärliche Haar um seine Ohren stand in alle Richtungen ab. Er wirkte wie ein zerstreutes Arbeitstier, das vor lauter Schufterei schon einmal vergessen mochte, zur Ver handlung zu erscheinen. Alles nur Show, damit ihn die Ge schworenen für harmlos hielten. Jake fiel nicht darauf herein.
»Danke, Mr. Brigance«, begann er. »Ich bin seit dreißig Jahren Prozessanwalt, und Jake Brigance ist der talentierteste junge Jurist, dem ich je begegnet bin. Ford County kann sich glücklich schätzen, einen so überragenden Anwalt zu haben. Es ist eine Ehre, gegen ihn anzutreten, noch dazu in diesem prächtigen historischen Sitzungssaal.« Er legte eine Pause ein und blickte auf seine Notizen, während Jake vor Wut über dieses falsche Lob kochte. Wenn er nicht gerade vor einem Geschworenengericht stand, war Lanier kühl und redegewandt. Jetzt, auf der Bühne, gab er sich volkstümlich, bodenständig und ungeheuer sympathisch.
»Dies sind nur die Eröffnungsplädoyers, was ich und Mr. Brigance hier von uns geben, es darf nicht als Beweis gewertet werden. Beweiskraft hat nur, was im Zeugenstand gesagt wird. Anwälte lassen sich manchmal dazu hinreißen, etwas zu äußern, was sie in der Verhandlung nicht beweisen können, oder sie lassen wichtige Fakten weg, von denen die Geschworenen wissen müss ten. Zum Beispiel hat Mr. Brigance nicht erwähnt, dass Seth Hubbard ganz allein mit Lettie Lang im Gebäude war, als er seinen Letzten Willen verfasste. Es war ein Samstagvormit tag, obwohl sie samstags nie arbeitete. Sie war bei ihm zu Hause und fuhr ihn von dort in seinem neuen Cadillac zu seinem Büro. Er schloss auf. Beide gingen hinein. Sie sagt, sie sollte sein Büro putzen, aber das hatte sie noch nie getan. Sie waren allein. Etwa zwei Stunden waren sie allein in den Büros der Berring Lumber Company, der Firmenzentrale von Seth Hubbards Unternehmen. Als sie am Samstagvormittag dort eintrafen, hatte Seth Hubbard ein Testament, das ein Jahr zuvor von einer kom petenten Kanzlei in Tupelo verfasst worden war – von An wälten, denen er seit Jahren vertraute – und in dem er prak tisch alles seinen beiden erwachsenen Kindern und seinen vier Enkelkindern vermachte. Ein typisches Testament. Ein übliches Testament. Ein vernünftiges Testament. Ein Testament, wie es praktisch jeder Amerikaner irgendwann unterzeichnet. Neunzig Prozent aller Vermögenswerte, über die testamentarisch verfügt wird, gehen an die Familie des Verstorbenen. So gehört es sich.«
Lanier ging nun auf und ab, seine kräftige, leicht gebeugte Gestalt stapfte durch den Saal. »Aber nachdem er an jenem Morgen zwei Stunden allein mit Lettie Lang in seinem Büro verbracht hatte, hatte er plötzlich ein anderes Testament, eins, das er selbst geschrieben hatte, das seine Kinder und Enkel kinder ausdrücklich von der Erbfolge ausschloss und neunzig Prozent seines Vermögens seiner Haushälterin vermachte. Klingt das vernünftig? Lassen wir die Kirche im Dorf. Seth Hubbard kämpfte seit einem Jahr gegen seine Krebserkrankung – ein harter Kampf, den er verloren hatte, und er wusste das. Der Mensch, der Seth Hubbard in seinen letzten Tagen auf dieser Welt am nächsten stand, war Lettie Lang. An guten Tagen kochte und putzte sie für ihn, kümmerte sich um seinen Haus halt und um seine Dinge, an schlechten Tagen fütterte sie ihn, ba dete ihn, kleidete ihn an, räumte seine Hinterlassenschaften weg. Sie wusste, dass er bald sterben würde – das war kein Geheimnis. Sie wusste auch, dass er reich war, und sie wusste, dass die Beziehung zu seinen erwachsenen Kindern schwie rig war.«
Lanier blieb neben dem Zeugenstuhl stehen, breitete die Arme in gespieltem Unglauben weit aus und fragte laut: »Sollen wir wirklich glauben, dass sie nicht an Geld dachte? In welcher Welt leben wir denn? Mrs. Lang wird Ihnen selbst bestätigen, dass sie ihr Leben lang als Haushälterin tätig war, dass ihr Ehemann Simeon Lang, der gegenwärtig im Gefängnis sitzt, nur unregelmäßig arbeitete und als Brötchenverdiener eine Niete war, dass sie ihre fünf Kinder unter schwierigen finanziellen Bedingungen großziehen musste. Das Leben war hart! Es blieb nie etwas übrig. Wie viele Menschen war Lettie Lang praktisch mittellos. Sie hatte nie Geld gehabt. Und nun, als sie sah, wie der Tod ihres
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