Die Erbin
testamentarisch ausdrücklich vom Erbe aus. Es liegt nahe, dass wir uns fragen, warum. Warum tut ein Mensch so etwas? Aber es ist nicht an uns, diese Frage zu beantworten. Warum Seth Hubbard so gehandelt hat, weiß nur er selbst. Er hat das Geld selbst verdient – es gehörte nur ihm. Er hätte jeden Penny dem Roten Kreuz, einem schmierigen Fernsehevangelisten oder der Kommunistischen Partei vermachen können. Das ist seine Angelegenheit, nicht Ihre, nicht meine, nicht die des Gerichts.
Statt das Geld seiner Familie zu hinterlassen, vererbte er fünf Prozent seiner Kirchengemeinde, fünf Prozent einem Bruder, den er vor vielen Jahren aus den Augen verloren hatte, und die verbleibenden neunzig Prozent einer Frau namens Lettie Lang. Mrs. Lang sitzt hier zwischen mir und Mr. Lundy. Sie arbeitete drei Jahre lang als Haushälterin, Köchin und manchmal als Krankenschwester für Seth Hubbard. Auch hier ist es nahelie gend, nach dem Warum zu fragen. Warum enterbte Mr. Hubbard seine Familie und hinterließ praktisch sein gesamtes Vermögen einer Frau, die er erst seit Kurzem kannte? Glauben Sie mir, das ist die schwierigste Frage, vor der ich als Anwalt je gestanden habe. Ich selbst habe mir diese Frage gestellt. Die anderen Anwälte, die Familie Hubbard, Lettie Lang selbst, Freunde und Nachbarn und praktisch jeder im County, der von dieser Geschichte gehört hat, stellen sich diese Frage: warum?
Die Wahrheit ist, dass wir es nie erfahren werden. Die Antwort kannte nur Seth Hubbard, und er ist nicht mehr unter uns. Die Wahrheit ist, dass uns das nichts angeht. Wir – Anwälte, Richter und Sie als Geschworene – haben uns nicht damit zu befassen, warum Mr. Hubbard so gehandelt hat. Wie bereits gesagt, haben Sie einzig und allein eine wichtige Aufgabe: zu entscheiden, ob Seth Hubbard in der Lage war, klar zu denken, als er sein Testament verfasste, und ob er wusste, was er tat.
Beides war der Fall. Das werden wir eindeutig und überzeugend beweisen.«
Jake legte eine Pause ein und griff nach einem Glas Wasser. Er trank einen Schluck und ließ den Blick durch den überfüllten Gerichtssaal schweifen. Harry Rex in der zweiten Reihe sah ihn eindringlich an. Er nickte flüchtig. Läuft gut bisher. Du hast ihre Aufmerksamkeit. Komm zum Schluss.
Jake trat erneut ans Rednerpult und warf einen Blick auf seine Notizen. »Da es um so viel Geld geht, müssen wir damit rechnen, dass in den nächsten Tagen mit harten Bandagen gekämpft wird. Die Familie von Seth Hubbard ficht das handschriftliche Testament an, das kann ihr niemand verübeln. Sie ist aufrichtig davon überzeugt, dass ihr das Geld zusteht, und hat mehrere kompetente Anwälte engagiert, um das handschriftliche Testament anzufechten. Sie macht geltend, sein Urteilsvermögen sei beeinträchtigt gewesen. Sie wirft Lettie Lang unzulässige Beeinflussung vor. ›Unzulässige Beeinflussung‹ ist ein juristischer Fachausdruck, der in diesem Fall von ausschlaggebender Bedeutung sein wird. Die Gegenseite wird versuchen, Sie davon zu überzeugen, dass Lettie Lang ihre Position als Pflegerin ausnutzte, um eine intime Beziehung zu Seth Hubbard aufzubauen. Es gibt viele Arten von Intimität. Sie pflegte Seth, badete ihn, wechselte seine Kleidung, putzte seine Hinterlassenschaften weg, tat all die Dinge, die Pfleger in diesen schwierigen und heiklen Situationen tun. Seth Hubbard war ein alter Mann im Endstadium einer tödlichen Krebserkrankung, die ihn sehr geschwächt hatte.«
Jake drehte sich um und sah Wade Lanier und die Horde von Rechtsanwälten am anderen Tisch an. »Es wird viel unterstellt, aber nichts bewiesen werden. Es gab keine sexuelle Beziehung zwischen Seth Hubbard und Lettie Lang. Nichts als Andeutungen und Unterstellungen, doch keine Beweise, weil es diese Beziehung nicht gegeben hat.«
Jake warf seinen Block auf den Tisch und kam zum Schluss. »Dies wird ein kurzes Verfahren mit zahlreichen Zeugen werden. Wie in jedem Verfahren kann man dabei leicht aus den Augen verlieren, worum es geht. Oft ist das von den Anwälten durchaus beabsichtigt, aber lassen Sie sich nicht ablenken. Vergessen Sie nicht, Ihre Aufgabe ist es nicht, Seth Hubbards Ver mögen zu verteilen. Ihre Aufgabe ist zu entscheiden, ob er wusste, was er tat, als er seinen Letzten Willen verfasste. Nicht mehr, nicht weniger. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.«
Unter dem massiven Druck von Richter Atlee hatten sich die anfechtenden Parteien darauf geeinigt, Eröffnungs- und Schluss plädoyers
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