Die Erbin
Euer Ehren.«
»Möchten Sie den Zeugen ins Kreuzverhör nehmen, Mr. Lanier?«
»Nein.«
»Sie sind entlassen, Sheriff Walls. Ich danke Ihnen. Mr. Brigance?«
»Ja, Euer Ehren, ich möchte für die Geschworenen feststellen lassen, dass sich alle Parteien einig sind, dass die soeben zu den Akten genommenen Dokumente tatsächlich von Mr. Seth Hubbard geschrieben wurden.«
»Mr. Lanier?«
»Wir stimmen zu, Euer Ehren.«
»Sehr gut, dann ist also unbestritten, dass die Dokumente von Mr. Hubbard verfasst sind. Fahren Sie fort, Mr. Brigance.«
»Die antragstellende Partei ruft Mr. Calvin Boggs auf«, sagte Jake.
Sie warteten, bis Calvin aus dem Zeugenzimmer geholt worden war. Er war ein breit gebauter Hinterwäldler, der nie in seinem Leben eine Krawatte besessen und offenkundig auch nicht im Traum daran gedacht hatte, sich für diesen Anlass eine anzuschaffen. Er trug ein ausgefranstes Flanellhemd, das an den Ellbogen mit Flicken besetzt war, eine dreckige Baumwollhose, schlammige Stiefel und sah überhaupt aus, als wäre er direkt von einer Rodungsexpedition in den Gerichtssaal spaziert. Er war völlig verschüchtert und überwältigt von seiner Umgebung und geriet schon nach wenigen Sekunden ins Stottern, als er sein Entsetzen darüber schilderte, seinen Arbeitgeber in der Platane hängen zu sehen.
»Um welche Uhrzeit hat er Sie am Sonntagmorgen angerufen?«, fragte Jake.
»Gegen neun, ich sollte ihn um zwei an der Brücke treffen.«
»Und Sie sind Punkt zwei eingetroffen?«
»Ja, genau.«
Jake wollte Boggs’ Aussage nutzen, um zu zeigen, dass Seth Hubbard an alles gedacht hatte. Den Geschworenen erklärte er später, Hubbard habe den Brief auf den Tisch gelegt, Seil und Leiter eingepackt, sei zum Ort der Tat gefahren und habe dafür gesorgt, dass er tot war, als Calvin Boggs um zwei Uhr eintraf. Er wollte kurz nach seinem Tod gefunden werden. Sonst hätten Tage vergehen können.
Lanier hatte keine Fragen. Der Zeuge wurde entlassen.
»Rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf, Mr. Brigance«, sagte Richter Atlee.
»Die antragstellende Partei ruft Finn Plunkett, den Coroner des County, auf«, verkündete Jake.
Finn Plunkett hatte auf dem Land die Post ausgetragen, als er dreizehn Jahre zuvor zum ersten Mal zum Coroner des County gewählt wurde. Damals besaß er keinerlei medizinische Kenntnisse, die in Mississippi auch nicht erforderlich waren. Er hatte bis dahin nie einen Tatort aus der Nähe gesehen. Die Tatsache, dass die Coroner für die einzelnen Countys in Mississippi immer noch gewählt wurden, war merkwürdig genug; die meisten Staaten taten das nicht mehr. Überhaupt war dieses Verfahren nur in wenigen Bundesstaaten jemals üblich gewesen. In den vergangenen dreizehn Jahren war Plunkett rund um die Uhr gerufen worden, um Pflegeheime, Krankenhäuser, Un fallorte, zwielichtige Kneipen, Flüsse, Seen und Wohnhäuser aufzusuchen, die von Gewalt heimgesucht worden waren. Üblicher weise beugte er sich über die Leiche und sprach feierlich die Worte: »Ja, der ist tot.« Dann spekulierte er über die Todesursache und stellte einen Totenschein aus.
Er war dabei gewesen, als Seth Hubbard aus dem Baum ge holt wurde. Er hatte gesagt: »Ja, der ist tot.« Tod durch Erhängen, Selbstmord. Ersticken und Genickbruch. Unter Jakes Anleitung erklärte er den Geschworenen rasch, was ohnehin auf der Hand lag. Wade Lanier verzichtete auf ein Kreuzverhör.
Jake rief seine frühere Sekretärin Roxy Brisco in den Zeugen stand, die, da sie im Streit gegangen war, ursprünglich nicht hatte aussagen wollen. Also hatte Jake sie vorladen lassen und ihr erklärt, sie könne im Gefängnis landen, wenn sie das igno riere. Daraufhin überlegte sie es sich schnell anders und erschien modisch herausgeputzt im Zeugenstand. Im Dialog gingen sie die Ereignisse vom Morgen des 3. Oktober durch, als sie mit der Post im Büro eintraf. Sie identifizierte den Umschlag, den Brief und das zweiseitige Testament von Seth Hubbard, und Richter Atlee ließ das als Beweismittel für die Antragsteller zu. Die Gegenseite erhob keine Einwendungen. Dem von Richter Atlee vorgeschlagenen Ablauf entsprechend, projizierte Jake eine vergrößerte Version des Briefs, den Seth Hubbard ihm geschrieben hatte, auf die Leinwand. Außerdem händigte er jedem Geschworenen eine Kopie aus.
»Wir legen jetzt eine kurze Pause ein, damit jeder von Ihnen den Brief gründlich lesen kann«, sagte Richter Atlee.
Im Saal wurde es auf einen Schlag still, als die
Weitere Kostenlose Bücher