Die Erbin
verständlich und kein bisschen kompliziert oder verwirrend ist. Er wusste, dass er sich am nächsten Tag, am Sonntag, dem 2. Oktober, das Leben nehmen würde, und brachte seine Angelegenheiten in Ordnung. Er plante alles. Er schrieb eine Nachricht an einen Mann namens Calvin Boggs, einen seiner Angestellten, und erklärte, dass er Suizid begehen werde. Sie werden das Original vorgelegt bekommen. Er verfasste ausführliche Anweisungen für seine Trauerfeier und Bestattung. Sie werden die Originale vorgelegt bekommen. Und am selben Samstag, vermutlich in seinem Büro, als er sein Testament machte, schrieb er mir einen Brief und gab mir genaue Instruktionen. Auch hier werden Sie das Original vorgelegt bekommen. Nachdem er alles erledigt hatte, fuhr er zur Hauptpost in Clanton und gab den Brief an mich gemeinsam mit dem Testament auf. Ich sollte den Brief am Montag bekommen, weil seine Beerdigung am Dienstag um vier Uhr nachmittags in der Irish Road Christian Church stattfinden sollte. Seth Hubbard kümmerte sich um jede Einzelheit. Er wusste genau, was er tat. Er hatte alles geplant.
Wie bereits erwähnt, ist es nicht Ihre Aufgabe, Mr. Hubbards Geld zu verteilen oder zu entscheiden, wer was oder wie viel bekommen soll. Es ist jedoch Ihre Aufgabe zu entscheiden, ob Seth Hubbard wusste, was er tat. Der Fachausdruck dafür ist Testierfähigkeit. Um ein rechtskräftiges Testament zu verfassen, gleich ob es mit der Hand auf die Rückseite einer Einkaufstüte geschrieben oder von fünf Sekretärinnen in einer großen Kanzlei getippt und von einem Notar beurkundet ist, muss man testierfähig sein. Das ist ein juristischer Fachbegriff, der leicht zu verstehen ist. Er bedeutet, dass man weiß, was man tut – und Seth Hubbard wusste genau, was er tat. Er war nicht verrückt. Er litt nicht unter Wahnvorstellungen. Er stand nicht unter dem Einfluss von Schmerzmitteln oder anderen Medikamenten. Er war geistig ebenso fit und gesund wie Sie zwölf in diesem Augenblick.
Man könnte argumentieren, jemand, der seinen eigenen Selbst mord plant, könne nicht bei klarem Verstand sein. Wer sich umbringt, muss verrückt sein, oder? Nicht unbedingt. Als Geschworene müssen Sie sich auf Ihre eigene Lebenserfahrung verlassen. Vielleicht kennen Sie selbst jemanden – einen nahen Freund oder sogar ein Familienmitglied –, der am Ende seines Weges angelangt war und seinen Abgang selbst bestimmen wollte. Waren diese Menschen verrückt? Vielleicht, aber höchstwahrscheinlich nicht. Seth Hubbard war es bestimmt nicht. Er wusste genau, was er tat. Er kämpfte seit einem Jahr gegen den Lungenkrebs, hatte mehrere Chemotherapien und Bestrah lungen hinter sich, die alle erfolglos geblieben waren, und der Krebs hatte Rippen und Wirbelsäule befallen. Er litt unerträgliche Schmerzen. Bei seinem letzten Arztbesuch hieß es, er habe noch einen Monat zu leben. Wenn Sie lesen, was er am Tag vor seinem Tod geschrieben hat, werden Sie davon überzeugt sein, dass Seth Hubbard sein Leben völlig unter Kontrolle hatte.«
Jake hielt einen Schreibblock als Requisite in der Hand, benutzte ihn aber nicht. Das hatte er nicht nötig. Er ging vor den Geschworenen auf und ab, nahm mit jedem von ihnen Blickkontakt auf, sprach langsam und deutlich, so, als säßen sie in seinem Wohnzimmer und redeten über den neusten Film. Aber jedes einzelne Wort stand irgendwo geschrieben. Jeder einzelne Satz war eingeübt. Jede Pause war genau berechnet. Timing, Rhythmus, Tempo – alles perfekt orchestriert.
Selbst der meistbeschäftigte Prozessanwalt verbringt nur einen Bruchteil seiner Zeit mit Geschworenen. Diese Augenblicke waren selten, und Jake genoss sie. Er war ein Schauspieler auf der Bühne, der in einem von ihm selbst verfassten Monolog Worte der Weisheit zu seinem auserwählten Publikum sprach. Sein Puls schoss in die Höhe, sein Magen rebellierte, seine Knie wurden weich. Aber diesen inneren Kampf hatte Jake vollkom men unter Kontrolle, und die belehrenden Worte an seine neuen Freunde klangen ruhig und gelassen.
Seit fünf Minuten redete er und hatte bisher kein einziges Wort vergessen. Noch einmal fünf Minuten lagen vor ihm, und der schwierigste Teil kam erst noch.
»Diese Geschichte hat eine unangenehme Facette, und deswegen sind wir hier. Seth Hubbard hinterließ einen Sohn, eine Tochter und vier Enkelkinder. Sie sind in seinem Testament nicht bedacht. Mit Worten, die klar und eindeutig, aber nur schwer zu ertragen sind, schließt Seth Hubbard seine Familie
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