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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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stecken wollte, um stundenlang über alten Landzuteilungs- und Besitzurkunden zu brüten, als gäbe es darin etwas Spektakuläres zu entdecken. Heute, mit fünfunddreißig und zehn Jahren Berufserfahrung, mied er diesen Raum lieber. Er sah sich selbst als Prozessanwalt, nicht als Faktenhuber, als Frontkämpfer, nicht als Schreibtischtäter, der seine Zeit zwischen Aktendeckeln verbrachte. Dennoch gab es Phasen, wo Jake – ebenso wie alle anderen Kollegen – nicht umhinkonnte, ein paar Stunden in den Archiven des County zu stöbern.
    Der Raum war voll. Die größeren Kanzleien beschäftigten Assistenten für diese Art von Recherche. Mehrere davon wa ren da, schleppten Bände voller Besitzurkunden hin und her und beugten sich mit gerunzelter Stirn über die Seiten. Jake sprach mit ein paar Kollegen, die selbst gekommen waren – natürlich nur über Football und ähnlich Unverfängliches, niemand wollte dabei erwischt werden, wie er seine Nase in Seth Hubbards Vergangenheit steckte. Um Zeit totzuschlagen, sah er im Testamentsverzeichnis nach, ob in den letzten zwanzig Jahren irgendjemand mit Namen Hubbard Grundbesitz oder sonstige Vermögenswerte an Seth vererbt hatte, aber da war nichts. Anschließend ging er den Flur entlang zur Nachlassabteilung, um in alten Scheidungsakten zu stöbern, entschied dann aber anders, da dort viel zu viele neugierige Kollegen herumschnüffelten.
    Auf der Suche nach einer ergiebigeren Quelle verließ er das Gericht.
    Es war kein Wunder, dass Seth Hubbard die Anwälte in Clanton verabscheut hatte. Alle, die sich in Scheidungs- oder sonstigen Zivilprozessen mit Harry Rex Vonner angelegt hatten, wurden ihres Lebens nie wieder froh und hassten alles, was mit Justiz und Gerichten zu tun hatte. Seth war nicht der Erste, der Selbstmord begangen hatte.
    Harry Rex nahm seinen Gegnern nicht nur Geld, Land und alles andere Wertvolle ab, er saugte ihnen förmlich das Blut aus den Adern. Sein Fachgebiet waren Scheidungen, je schmut ziger, desto besser. Er liebte Schlammschlachten und blutige Gemetzel, den Kitzel heimlicher Telefonaufzeichnungen und das überraschende Foto der Geliebten in ihrem neuen Cabrio. Seine Prozesse waren Grabenkriege, die Abfindungspauschalen, die er erwirkte, legendär. Aus purem Vergnügen machte er aus einvernehmlichen Trennungen Rosenkriege, die sich über Jahre hinzogen. Er liebte es, Exgeliebte wegen Verlusts ehelicher Zu neigung zu verklagen. Und wenn keiner seiner alten Tricks funk tionierte, dachte er sich neue aus. Mit seinen Methoden konnte Rex den gesamten Gerichtsbetrieb manipulieren und unter Druck setzen. Die Junganwälte nahmen vor ihm Reißaus, und die älteren Kollegen, von denen kaum einer sich nicht die Finger an ihm verbrannt hatte, blieben auf Distanz. Er hatte nicht viele Freunde, und selbst denen, die ihm die Treue hielten, fiel das oft nicht leicht.
    Unter den Kollegen gab es nur einen, dem Harry Rex vertraute, und das war Jake. Das Vertrauen beruhte auf Gegensei tigkeit. Während des Hailey-Verfahrens, als Jake unter Schlaflosigkeit litt, an Gewicht verlor und sich nicht mehr konzentrieren konnte, als er Morddrohungen und Attentaten ausgesetzt war und fürchtete, im größten Fall seiner Karriere zu versagen, war Harry Rex zur Stelle gewesen. Er hatte im Hintergrund ge wirkt, oft stundenlang, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten. Er hatte Jake mit Rat und Tat zur Seite gestanden und ihm so den Kopf gerettet.
    Wie jeden Montagmittag saß Harry Rex an seinem Schreibtisch und aß ein Sandwich. Für Scheidungsanwälte wie ihn war der erste Tag der Woche der anstrengendste. Ehen scheiterten meistens am Wochenende, und dann standen die Kontrahenten mit gebleckten Zähnen vor seiner Tür. Jake betrat das Gebäude durch den Hintereingang, um a) den chronisch gereizten Sekretärinnen aus dem Weg zu gehen und b) den pulverdampfver hüllten Warteraum voller entnervter Mandanten zu meiden. Harry Rex’ Bürotür war geschlossen. Jake lauschte einen Augen blick lang, und als er keine Stimmen hörte, trat er ein.
    »Was willst du?«, brummte Harry Rex mit vollem Mund. Das Sandwich lag vor ihm auf einem Stück Butterbrotpapier, flankiert von einem kleinen Berg Barbecue-Kartoffelchips. Zum Hinunterspülen hatte er eine Flasche Bud Light vor sich.
    »Guten Tag, Harry Rex. Entschuldige, dass ich dich beim Mittagessen störe.«
    Harry Rex wischte sich mit einem fleischigen Handrücken über den Mund. »Du störst überhaupt nicht. Was gibt’s?«
    »Schon

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