Die Erbin
gehört habe, lebte sie irgendwo am Strand mit einem neuen Ehemann, der, wie sie sagte, viel jünger sei als sie. Sie meinte, es gebe Gerüchte, dass Seth wieder ins Holzgeschäft eingestiegen sei, aber sie wisse nicht viel.« Er schluckte und spülte mit Bier nach. Dann rülpste er geräuschvoll und ohne das geringste Anzeichen von Verlegenheit. »Hast du schon mit den Kindern gesprochen?«
»Noch nicht. Kennst du sie?«
»Ja, hab sie damals kennengelernt. Die können es dir ganz schön schwer machen. Herschel ist ein Waschlappen. Seine Schwester, wie heißt sie noch gleich?«
»Ramona Hubbard Dafoe.«
»Genau. Sie ist ein paar Jahre jünger als Herschel und gehört zu dem feinen Zirkel von Nord-Jackson. Beide sind nicht besonders gut mit Seth ausgekommen, und ich hatte immer den Eindruck, dass er kein guter Vater ist. Sie mochten Sybil, ihre zweite Mutter, sehr gern, und als klar wurde, dass Sybil als Siegerin aus dem Scheidungsdrama hervorgehen und das ganze Geld bekommen würde, haben sie sich auf ihre Seite geschlagen. Lass mich raten – der Alte lässt sie leer ausgehen?«
Jake nickte, sagte aber nichts.
»Die werden ausrasten und sich sofort einen Anwalt nehmen. Das ist ein richtiger Knüller, den du da an Land gezogen hast, Jake. Wie schade, dass ich nicht auch ein Stück vom Kuchen abhaben kann.«
»Wenn du wüsstest.«
Harry Rex ließ den Rest vom Sandwich und die letzten Chips in seinem Mund verschwinden und knüllte Papier, Tüte und Servietten zusammen, um sie mit der leeren Bierflasche unter seinen Schreibtisch zu befördern. Dann öffnete er eine Schublade und nahm eine lange schwarze Zigarre heraus, die er sich in den Mundwinkel steckte, ohne sie anzuzünden. Er hatte aufgehört zu rauchen, kam aber immer noch auf zehn am Tag, die er kaute und stückweise ausspuckte. »Ich habe gehört, er hat sich erhängt. Stimmt das?«
»Ja. Und er hat alles bestens geplant.«
»Irgendeine Idee, warum?«
»Du hast bestimmt die Gerüchte gekannt. Er war unheilbar an Krebs erkrankt. Mehr wissen wir nicht. Wer hat ihn bei der Scheidung vertreten?«
»Stanley Wade. Ein großer Fehler.«
»Wade? Seit wann macht der denn Scheidungen?«
»Nicht mehr«, sagte Harry Rex lachend. Er schmatzte und wurde wieder ernst. »Hör mal, Jake, ich sage das nicht gern, aber was vor zehn Jahren passiert ist, ist Schnee von gestern. Ich habe Seth Hubbards Geld genommen, einen angemessenen Teil für mich behalten und den Rest meiner Mandantin gegeben. Dann habe ich die Akte geschlossen. Was auch immer Seth nach Scheidung Nummer zwei getrieben hat, geht mich nichts an.« Er schwenkte die Hand über die Papierberge auf seinem Schreibtisch. »Mein Montag freilich gehört diesem Zeug hier. Wenn du später Lust hast, mit mir was trinken zu gehen, gern, aber im Moment stecke ich bis zum Hals in Arbeit.«
Mit Harry Rex etwas trinken zu gehen bedeutete meist nach einundzwanzig Uhr. »Klar, lass uns dann weiterreden«, sagte Jake und stieg auf dem Weg zur Tür über ein paar Akten.
»Sag mal, Jake, kann man davon ausgehen, dass Hubbard ein früheres Testament für nichtig erklärt hat?«
»Ja.«
»Und ist dieses frühere Testament von einer Kanzlei verfasst worden, die größer ist als deine?«
»Ja.«
»Dann würde ich an deiner Stelle sofort zum Gericht laufen und als Erstes einen Antrag auf Testamentseröffnung stellen.«
»Mein Mandant will, dass ich damit bis nach der Beerdigung warte.«
»Wann ist die?«
»Morgen um vier.«
»Das Gericht schließt um fünf. Da ist noch genug Zeit. Es ist immer besser, als Erster dort zu sein.«
»Danke, Harry Rex.«
»Keine Ursache.« Er rülpste wieder und griff nach einer Akte.
Den ganzen Nachmittag über riss der Strom von Besuchern nicht ab; Nachbarn, Kirchenmitglieder und andere Bekannte kamen in einer feierlichen Prozession zu Seths Haus, um Essen zu bringen, mitzutrauern, vor allem aber, um mehr über das Gerücht zu erfahren, das sich im Nordosten von Ford County wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. Die meisten wurden von Lettie höflich, doch bestimmt am Eingang wieder verabschiedet. Sie nahm Schüsseln, Kuchen und Beileidsbekundungen entgegen und wiederholte ungezählte Male, dass die Familie danke, aber keine Besuche empfange. Einigen gelang es trotzdem, ins Haus zu schlüpfen und zum Wohnzimmer vorzudringen, wo sie standen und die Einrichtung begafften. Sie waren noch nie hier gewesen, und Lettie hatte keine Ahnung, wer sie waren. Trotzdem gaben sie vor zu trauern. So
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