Die Erbin
Stuhl hoch – er war viel größer, als es im Sitzen den Anschein gehabt hatte – und verpasste Simeon zwei brutale Hiebe ins Gesicht.
Simeon kam auf dem Parkplatz wieder zu sich. Sie hatten ihn zu seinem Pick-up geschleppt und auf die Ladefläche gelegt. Er setzte sich auf, sah sich um, aber da war niemand. Vorsichtig berührte er sein rechtes Auge, das zugeschwollen war, und rieb sich die linke Wange, die sich ziemlich wund anfühlte. Als er auf seine Uhr sehen wollte, stellte er fest, dass sie nicht mehr da war. Nicht nur die eintausend Dollar waren weg, die er Lettie geklaut hatte, sondern auch die hundertzwanzig für den Ein kauf. Scheine, Münzen, alles fort. Die Brieftasche hatten sie ihm gelassen, aber da war nichts Wertvolles mehr drin. Einen Moment lang überlegte Simeon, ob er in die Kneipe stürmen, den einbeinigen Ontario oder den einarmigen Loot packen und das Geld zurückverlangen sollte. Schließlich war er auf ihrem Gelände beraubt worden. Was war das für ein Laden?
Doch dann änderte er seine Meinung und fuhr los. Er würde später wiederkommen und die Sache mit Tank klären. Ontario sah ihm nach, und als der Pick-up außer Sichtweite war, rief er den Sheriff an. An der Stadtgrenze von Clanton wurde Simeon angehalten, wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen und in Handschellen zum Gefängnis gefahren. Dort kam er in die Ausnüchterungszelle und erfuhr, dass er erst telefonieren durfte, wenn er wieder nüchtern war.
Aber er war ohnehin nicht scharf darauf, nach Hause zu kommen.
Rechtzeitig zum Mittagessen kam Darias mit seiner Frau Natalie und ihrem Stall voller Kinder aus Memphis. Sie waren natürlich hungrig. Natalie hatte wenigstens einen großen Teller Kokosplätzchen dabei. Rontells Frau hatte nichts mitgebracht. Von Simeon und den Einkäufen war weit und breit nichts zu sehen. Man disponierte um, und Lettie schickte Darias zum Einkaufen. Im Laufe des Nachmittags gingen alle nach draußen, wo die Jungs Football spielten und die Männer Bier tran ken. Rontell warf den Grill an, und bald stiegen dichte, aroma geschwängerte Rauchschwaden von den Spareribs auf. Die Frauen setzten sich auf die Veranda und unterhielten sich gut gelaunt. Noch mehr Besucher kamen hinzu – zwei Cousinen aus Tupelo und ein paar Freunde aus Clanton.
Alle wollten zu Lettie, und sie genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, umgarnt und bewundert zu werden. Auch wenn sie schon ahnte, woher das plötzliche Interesse kam, gefiel es ihr, die Haupt person zu sein. Niemand erwähnte das Testament, das Geld oder Mr. Hubbard, zumindest nicht in ihrer Gegenwart. Dass es um zwanzig Millionen ging, galt längst als verbriefte Tatsache. Der Betrag war oft genug von Leuten genannt worden, die es wissen mussten. Das Geld existierte, und Lettie würde neunzig Prozent davon bekommen, das stand fest. Irgendwann allerdings konnte Darias der Versuchung nicht mehr widerstehen. Als er mit Rontell allein am Grill stand, fragte er: »Hast du heute Morgen in die Zeitung geschaut?«
»Ja«, sagte Rontell. »Kann mir nicht vorstellen, wie das helfen soll.«
»Das hab ich mir auch gedacht. Wenigstens kommt Booker Sistrunk ziemlich gut weg.«
»Bestimmt hat er die Zeitung angerufen und den Artikel bestellt.«
Erste Seite des Lokalteils der Morgenzeitung. Eine hübsche Klatschgeschichte über Mr. Hubbards Selbstmord und sein ungewöhnliches Testament, dazu das Foto von Lettie im Sonn tagsoutfit zwischen Booker Sistrunk und Kendrick Bost, die ihre Finger nicht von ihr lassen konnten.
»Die kommen jetzt aus allen Löchern gekrochen«, sagte Darias.
Rontell schnaubte und wedelte lachend mit dem Arm. »Sie sind doch schon da«, sagte er. »Stehen an und warten.«
»Was denkst du, wie viel Sistrunk nimmt?«
»Ich habe sie gefragt, aber sie hat nichts gesagt.«
»Die Hälfte?«
»Keine Ahnung. Billig ist er nicht.«
Als ein Neffe vorbeikam, um zu sehen, wie weit die Spareribs waren, wechselten die beiden Männer das Thema.
Am späten Nachmittag wurde Simeon aus der Ausnüchterungs zelle geholt und von einem Deputy zu dem kleinen, fensterlosen Raum geführt, in dem sich sonst die Insassen mit ihren Anwälten zusammensetzten. Er bekam ein Kühlpack für sein Gesicht und eine Tasse frischen Kaffee. »Und jetzt?«, fragte er.
»Sie haben Besuch«, sagte der Deputy.
Fünf Minuten später erschien Ozzie und setzte sich. Er trug Jeans und ein Sakko, an seinem Gürtel baumelte ein Abzeichen und an seiner Hüfte ein Waffenhalfter. »Wir haben
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