Die Erbin
vor einer Jury seinen Charme spielen zu lassen. Bei einem Verfahren mit Sistrunk gab es immer ein paar Opfer, und es war ihm egal, wer zu Schaden kam. Gegen ihn zu prozessieren war derart unerfreulich, dass potenzielle Beklagte es mitunter vorgezogen hatten, sich in aller Eile außergerichtlich zu einigen.
Solche Methoden funktionierten vielleicht in der rassistisch aufgeladenen Atmosphäre eines Bundesgerichts in Memphis, doch niemals in Ford County, und in einem Verfahren mit Richter Reuben V. Atlee schon gleich gar nicht. Jake hatte die von Sistrunk gestellten Anträge bereits etliche Male gelesen, und je öfter er sie las, desto mehr gelangte er zu der Auffassung, dass der bekannte Anwalt Lettie einen nicht wiedergutzuma chenden Schaden zufügte. Er zeigte Lucien und Harry Rex Kopien der Schriftsätze, und beide waren der gleichen Meinung wie er. Es war eine bescheuerte Strategie, die mit Sicherheit nach hinten losgehen und scheitern würde.
Zwei Wochen nach der Testamentseröffnung war Jake so weit, dass er alles hinwerfen wollte, wenn Sistrunk dabeiblieb. Er reichte einen Antrag ein und verlangte, den von Sistrunk und Buckley gestellten Anträgen nicht stattzugeben, mit der Begründung, sie würden vor Gericht nicht standhalten. Er sei der Anwalt der Parteien, die die Testamentseröffnung beantragt hatten, nicht die Anwälte aus Memphis. Er hatte vor, Richter Atlee unter Druck zu setzen, damit er die anderen Anwälte in ihre Schranken verwies. Falls das nicht klappte, wollte er sofort nach Hause gehen.
Russell Amburgh wurde von seinen Pflichten entbunden und hatte nichts mehr mit der Sache zu tun. Sein Nachfolger war Quince Lundy, ein bereits halb pensionierter Anwalt aus Smithfield, der ein alter Freund von Richter Atlee war. Lundy hatte eine geruhsame Karriere als Steuerberater eingeschlagen und sich auf diese Weise die Schrecken von Gerichtsverfahren erspart. Als Ersatz-Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter, wie es offiziell hieß, wurde von ihm erwartet, dass er seine Pflichten erfüllte, ohne sich sonderlich von der Anfechtung des Testaments beeinflussen zu lassen. Seine Aufgabe bestand darin, sich einen Überblick über Mr. Hubbards Vermögenswerte zu beschaffen, diese zu bewerten und zu schützen und dem Ge richt Bericht darüber zu erstatten. Lundy schleppte die Unterlagen von der Berring Lumber Company in Jakes Kanzlei in Clanton und lagerte sie dort im Erdgeschoss in einem Raum neben der kleinen Bibliothek. Dann begann er, zwischen Smith field und Clanton zu pendeln, und betrat jeden Morgen nach einer Stunde Fahrt pünktlich um zehn Uhr die Kanzlei. Zum Glück verstand er sich gut mit Roxy, sodass es zu keinem Drama kam.
Das Drama braute sich jedoch in einem anderen Teil der Kanzlei zusammen. Lucien schien sich anzugewöhnen, jeden Tag in der Kanzlei vorbeizuschauen, wo er in der Hubbard-Sache herumschnüffelte, die Bibliothek durchwühlte, unaufgefordert in Jakes Büro platzte, Ansichten und Ratschläge von sich gab und Roxy, die ihn nicht ausstehen konnte, auf die Nerven ging. Lucien und Quince hatten gemeinsame Freunde, und es dauerte nicht lange, bis die beiden ganze Kannen Kaffee leerten und sich Geschichten über exzentrische alte Richter erzählten, die seit Jahrzehnten tot waren. Jake blieb oben und machte die Tür hinter sich zu, während unten nur wenig gearbeitet wurde.
Und zum ersten Mal seit Jahren sah man Lucien wieder im Gerichtsgebäude und in dessen Nähe. Die Demütigung durch das Berufsverbot war inzwischen nicht mehr ganz so stark. Er fühlte sich immer noch wie ein Ausgestoßener, aber da er aus den völlig falschen Gründen eine Legende war, wollte jeder Hallo sagen. Wo sind Sie so lange gewesen? Was machen Sie denn so zurzeit? Besonders häufig sah man ihn im Archiv, wo er spätnachmittags in staubigen alten Grundstücksregistern wühlte, wie ein Detektiv, der nach Hinweisen suchte.
Ende Oktober standen Jake und Carla an einem Dienstag um fünf Uhr morgens auf. Sie duschten rasch, zogen sich an und verabschiedeten sich von Jakes Mutter, die als Babysitter fungierte und auf dem Sofa schlief. Dann setzten sie sich in den Saab und brachen auf. In Oxford holten sie sich am Autoschalter eines Fast-Food-Restaurants Kaffee und etwas zu essen. Eine Stunde westlich von Oxford wurden die Hügel immer flacher und gingen schließlich in das Mississippi-Delta über. Die Highways zerschnitten Felder, die weiß vor verspätet reif gewordener Baumwolle waren. Riesige,
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