Die Erbin
getan? Und: Hatte er es mit ihr besprochen? Die zweite Frage war ganz einfach zu beantworten: nein, denn er hatte nie etwas mit ihr besprochen. Sie hatten über das Wetter geredet, über Reparaturen am Haus, über die Einkaufsliste und was es zu essen geben sollte, aber nie über irgendetwas Bedeutendes. So lautete im Moment ihre Standardantwort. In Wahrheit hatte er zweimal beiläufig und unerwartet erwähnt, dass er ihr etwas hinterlassen wolle. Er hatte gewusst, dass er sterben würde, und zwar bald. Er hatte sein Abtreten geplant. Sie sollte wissen, dass er sie bedenken würde.
Aber warum so viel? Seine Kinder waren alles andere als sympathisch, doch so eine harte Strafe hatten sie nicht verdient. Auch sie hatte das alles nicht verdient. Es war alles so unlogisch. Warum konnte sie sich nicht einfach mit Herschel und Ramona zusammensetzen, nur zu dritt, ohne die ganzen Anwälte, und besprechen, wie sie das Geld vernünftig aufteilen könnten? Lettie hatte noch nie etwas besessen, und sie war nicht habgierig. Sie würde sich mit wenig zufriedengeben. Den gesamten Rest konnten die Hubbards haben. Sie wollte nur so viel, dass sie ein neues Leben beginnen konnte.
Ein Auto näherte sich. Es wurde langsamer, fuhr aber weiter, als wollte der Fahrer nur einen genaueren Blick auf ihr Haus werfen. Ein paar Minuten später kam aus der entgegengesetzten Richtung ein anderes Auto, das Lettie gleich erkannte: ihr Bruder Rontell und seine Blagen mitsamt seiner zickigen Frau. Er hatte angerufen und angekündigt, dass sie vielleicht vorbeikommen würden, und da waren sie, an einem Samstagmorgen in aller Herrgottsfrühe, um ihrer geliebten Lettie einen Besuch abzustatten, deren Foto auf der Titelseite der Zeitung prangte und die plötzlich in aller Munde war, seit sie sich in das Testament dieses weißen alten Sacks gemogelt hatte, und bald stinkreich sein würde.
Lettie eilte ins Haus und begann, alle laut aufzuwecken.
Während Simeon an der Küchentheke stand und die Einkaufsliste studierte, bekam er aus dem Augenwinkel mit, wie Lettie in der Vorratskammer die Hand in eine Keksdose steckte und Geldscheine herausnahm. Er tat, als hätte er nichts gesehen, doch als sie Sekunden später ins Wohnzimmer verschwand, langte er nach der Dose und fischte zehn Hundertdollarscheine heraus.
Hier versteckte sie also das gemeinsame Geld.
Rontell und mindestens vier seiner Kinder wollten unbedingt mit zum Einkaufen kommen, doch Simeon brauchte etwas Zeit für sich. Er schaffte es, sich durch die Hintertür davonzustehlen, in seinen Pick-up zu steigen und unbemerkt davonzufahren. Auf der fünfzehnminütigen Fahrt nach Clanton genoss er das Alleinsein. Er merkte, dass ihm die Straße fehlte, die Tage weg von zu Hause, die Bars und Kneipen. Und die Frauen. Irgendwann würde er Lettie verlassen und weit wegziehen, aber ganz gewiss nicht jetzt. O nein. Auf absehbare Zeit gedachte Simeon Lang den Mustergatten zu geben.
Zumindest hatte er sich das fest vorgenommen. Oft wusste er gar nicht, warum er etwas tat. Plötzlich war da eine Stimme in seinem Ohr, ein hinterhältiges Flüstern, das er nicht abschal ten konnte. Tank’s Tonk, sagte die Stimme. Fahr ins Tank’s Tonk.
Die Kneipe lag ein paar Kilometer nördlich von Clanton am Ende eines Feldwegs. Hierher kam nur, wer es wirklich darauf anlegte, Krach zu bekommen. Tank hatte weder Schankerlaubnis noch Konzession, und an seinem Fenster klebte auch kein Sticker der Handelskammer. Alkohol, Glücksspiel und Prostitution verboten? Das galt anderswo. Bei Tank gab es das kühlste Bier weit und breit, und während Simeon die Straße entlangtuckerte, die Einkaufsliste seiner Frau in einer Tasche, das vom Anwalt geliehene Geld in der anderen, überkam ihn aus heiterem Himmel plötzlich große Lust auf ein eiskaltes Bier und eine Runde Würfeln oder Karten. Was konnte es an einem Samstagmorgen Schöneres geben?
Ein junger Mann, der Loot hieß und nur einen Arm hatte, wischte um die Tische herum auf und beseitigte die Spuren vom Vorabend. Auf der Tanzfläche verstreut lagen Glasscherben, die auf eine Schlägerei hindeuteten. »Irgendjemand erschossen worden?«, fragte Simeon und riss den Verschluss einer Halbliter dose Bier auf. Er war der einzige Gast.
»Nicht direkt. Zwei liegen mit gebrochenem Schädel im Krankenhaus«, erwiderte Ontario, der einbeinige Barmann, der im Gefängnis gewesen war, weil er seine beiden Ehefrauen ermordet hatte. Inzwischen war er Single. Tank hatte eine Schwä che für
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