Die Erbin
früher. Er war nett zu Cypress, machte Besorgungen für sie und hielt sich mit Kraftausdrücken zurück. Er zeigte sich geduldig mit den Kindern. Zweimal schon hatte er gegrillt und zum allerersten Mal überhaupt die Küche aufgeräumt. Letzten Sonntag war er sogar mit der Familie in der Kirche. Aber die auffälligste Veränderung war, wie rücksichtsvoll und liebenswürdig er sich seiner Frau gegenüber verhielt.
Geschlagen hatte er sie seit Jahren nicht, aber wer einmal geschlagen wurde, vergisst es nie. Die Blutergüsse verheilen mit der Zeit, doch die Seele trägt bleibende, unsichtbare Narben davon. Wie feige muss ein Kerl sein, um eine Frau zu schlagen? Simeon hatte sich bei ihr entschuldigt, und sie hatte ihm gesagt, dass sie ihm verzeihe. Aber das stimmte nicht. Manche Sünden waren nicht verzeihlich, und seine Frau zu schlagen gehörte dazu. Sie hatte sich geschworen, eines Tages wegzugehen und frei zu sein. Vielleicht in zehn Jahren, vielleicht erst in zwanzig, aber sie würde den Mut aufbringen, sich von diesem Waschlappen zu trennen.
Ob die Trennung durch Mr. Hubbard wahrscheinlicher geworden war, konnte sie nicht sagen. Einerseits war es viel schwieriger, Simeon zu verlassen, solange er sie umgarnte und ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Andererseits bedeutete das Geld Unabhängigkeit.
Aber war das wirklich so? Würde sie dank des Geldes wirklich ein besseres Leben haben, in einem größeren Haus mit schöneren Dingen und weniger Sorgen wohnen, vielleicht sogar ohne den Ehemann, den sie nicht mochte? Natürlich war das alles möglich. Aber würde es nicht auch bedeuten, dass sie ihr Leben lang auf der Flucht sein würde, vor Verwandten, Freunden und irgendwelchen Fremden, die die Hand aufhielten? Am liebsten wäre Lettie sofort weggelaufen. Seit Jahren fühlte sie sich in diesem viel zu kleinen Haus mit viel zu vielen Menschen und nicht genügend Betten eingesperrt. In letzter Zeit war die Situation beklemmend geworden.
Anthony, der Fünfjährige, der zu ihren Füßen lag, bewegte sich im Schlaf. Lettie schwang behutsam die Beine aus dem Bett, nahm ihren Bademantel vom Türhaken, zog ihn an und verließ auf leisen Sohlen das Zimmer. Unter dem schmutzigen und ausgetretenen Teppich knarrte der Boden im Flur. Nebenan schlief Cypress, deren Decke viel zu klein für ihren ausladenden Körper war. Am Fenster stand eingeklappt der Rollstuhl, auf dem Boden schliefen zwei Kinder von Letties Schwester. Lettie warf einen Blick in das dritte Schlafzimmer, in dem Clarice und Phedra mit herabhängenden Armen und Beinen in einem Bett schliefen, weil Letties Schwester seit fast einer Woche das andere belegte. Auf dem Boden lag mit angezogenen Knien ein weiteres Kind. Im Wohnzimmer fand sie Kirk auf dem Boden, während auf dem Sofa ein Onkel schnarchte.
All diese Menschen überall, dachte Lettie, während sie in der Küche das Licht einschaltete und auf das Chaos vom Vorabend blickte. Abspülen würde sie später. Sie setzte Kaffee auf und öffnete den Kühlschrank, der genauso aussah, wie sie erwartet hatte. Außer ein paar Eiern und einer Packung Wurstaufschnitt war nicht viel Essbares da, jedenfalls bei Weitem nicht genug, um die ganze Horde zu verköstigen. Sie würde ihren Mann zum Supermarkt schicken, sobald er aufgestanden war. Bezahlt wurde jetzt nicht mehr von dem, was Simeon oder sie an Lohn oder vom Staat bekamen, sondern von dem, was ihnen ihr großzü giger neuer Held, Rechtsanwalt Booker Sistrunk, gegeben hatte. Simeon hatte ihn um ein Darlehen von fünftausend Dollar gebeten. (»Ein Mann, der so ein Auto fährt, für den sind fünftausend Dollar Peanuts.«) Im Grund war es gar kein Darlehen, hatte Simeon gesagt, sondern eher eine Art Vorschuss. Booker fand das in Ordnung, und dann unterschrieben sie beide den Schuldschein. Lettie hatte das Geld in der Vorratskammer in einer Keksdose versteckt.
Sie schlüpfte in Sandalen, zog den Bademantel straffer und ging nach draußen. Es war der 15. Oktober, und die Luft hatte bereits ziemlich abgekühlt. Die Blätter tanzten und zitterten im Wind. Lettie nahm einen Schluck aus ihrem Lieblingskaffeebecher und ging über den Rasen zu dem kleinen Schuppen, in dem sie Rasenmäher und anderes Werkzeug aufbewahrten. Dahinter hing an einer Hemlocktanne eine Schaukel. Sie setzte sich darauf, streifte die Schuhe ab und begann sich abzustoßen, immer höher.
Die Frage war ihr schon gestellt worden, und sie würde sicher noch öfter kommen. Warum hatte Mr. Hubbard das
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