Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
umherzuspazieren, erklärt. Malian hatte auf den Wall hinausgestarrt, der, so weit das Auge reichte, aus hoch aufragenden, zerklüfteten Gipfeln bestand. Dabei überlegte sie, ob die lange Geschichte des Kämpfens wirklich nur ein Mythos war. Gleichzeitig fragte sie sich, wie die Derai darauf hoffen konnten, einem erneuten Ansturm des Schwarms standzuhalten, wenn so viele in der Allianz ihren Glauben an ihre uralte Wache verloren hatten.
Der Graf hatte genickt, als sie ihm diese Gedanken mitteilte. » Ja, die Derai, die diese Behauptungen verbreiten, leben größtenteils in den Festungen, die weit vom äußeren Wall entfernt liegen. Wir töten die Kämpfer des Schwarms, bevor sie ihre Grenzen verletzen. Dennoch zeigt jeder Bericht, den ich vorgelegt bekomme, dass die Übergriffe zunehmen. Wir sollten unsere Allianz und unsere Wachsamkeit verstärken und dem Wall nicht den Rücken kehren. «
Malian dachte erneut über diese Unterhaltung nach, während das Leben in der Halle sie umschwirrte. Sie saß am Ratstisch der Nacht und wusste, dass es ihre Pflicht als Erbin war, die Gefahren, die ihr Haus bedrängten, zu verstehen, auch wenn viele sie noch wie ein Kind behandelten. Sie wollte beweisen, dass sie etwas wert war, sie wollte eine großartige Tat vollbringen oder einem ernsthaften Feind entgegentreten, damit alle wussten, dass sie zu Recht Erbin der Nacht genannt wurde.
Ein Gong erklang und übertönte das Gemurmel. Die Versammlung verfiel in Schweigen. Nhairin trat durch die große Flügeltür, hielt inne und ließ einen ernsten Blick über die Menschenmenge schweifen. Dann rief sie mit einer Stimme, die die Halle erfüllte: » Der Graf der Nacht betritt die Hohe Halle! Erhebt Euch für den Grafen der Nacht! «
Die Versammlung erhob sich und wandte sich gemeinsam mit Malian der Türe zu, durch die ihr Vater schritt. Er war ein finsterer Mann, und er war groß, wie alle seine Verwandten außer Malian. Mit der anerzogenen Würde eines Schwertkämpfers schritt er einher. Doch sein Ausdruck war verschlossen, beinahe kalt. Malian dachte: » Er hält die ganze Welt auf Armlänge von sich, einschließlich mir. « Ihr Blick glitt zu der Frau an seiner Seite. » Fast die ganze Welt « , berichtigte Malian sich und wahrte einen neutralen Ausdruck.
Sie kannte den Rest des gräflichen Hausstandes ebenso gut wie ihr Vater, wenn nicht besser. Gerenth, der Kommandant der Nacht, schritt als Erster hinter dem Grafen herein, mit Asantir, die als Hauptmann der gräflichen Ehrengarde diente, an seiner Seite. Teron, der älteste Schildknappe, ging hinter ihnen und musste seinen zügigen Gang verlangsamen, um mit Jiron, dem Schreiber des Grafen, im Gleichschritt zu bleiben. Malian lächelte innerlich, denn ihr fiel auf, dass Jiron so unordentlich wie immer aussah: Er hatte Tintenflecken an den Fingern, und sein rostbrauner Umhang rutschte ihm halb von der Schulter. Haimyr ging am Ende des direkten Hausstandes und begab sich an die Seite von Nhairin. Dahinter folgte eine kleine Armee von Schildknappen und Knappen, die alle schwarze Uniformen mit dem Emblem des Hauses der Nacht – dem geflügelten Pferd – trugen.
Malian beobachtete, wie sie durch die Halle voranschritten. Wieder einmal war sie erschrocken darüber, wie fremd die Gefährtin ihres Vaters, Lady Rowan Birkenmond, unter all den dunkel gekleideten und düster blickenden Mitgliedern des gräflichen Hausstandes wirkte. Ihr hellbraunes Haar war mit Muschelstückchen und kleinen Federn zu einem Zopf geflochten, der über ihren Rücken hinabhing. Ihre lange Tunika und die Beinkleider aus weichem weißem Leder waren mit Tieren und Vögeln bestickt. Üblicherweise rannte ein weißer Hund hinter ihr her, oder eine weiße Katze mit Luchspinseln auf den Ohren drückte sich an ihre Beine. Heute sah Malian mit einem leisen Stich des Neids einen der leichtfüßigen Hunde.
Sie beneidete Rowan Birkenmond allerdings nicht um das unruhige Gemurmel, das ihr über die Länge der Halle folgte. Der Skandal ihrer Ankunft vor drei Jahren hatte die Derai-Allianz bis in die Grundfesten erschüttert. Es war unerhört und absolut undenkbar für jeden Derai – geschweige denn für einen Grafen – sich eine Außenstehende als Gefährtin für Tisch und Bett zu nehmen. Doch da war sie – Rowan Birkenmond aus dem Wintervolk – und trug den Titel der Lady Gefährtin, saß an der Seite des Grafen der Nacht in der Hohen Halle und schlief in seinem Bett. Das war beispiellos. Wenigstens hatte er sie
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