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Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)

Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Lowe
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überhaupt noch jemand von ihnen am Leben war; jedenfalls behaupteten das die erfahrenen Jäger. Aus diesem Anlass hatten sie am Lagerfeuer die Köpfe geschüttelt und sich die alten Geschichten über die Derai wieder ins Gedächtnis gerufen.
    » Sie sind kriegerisch und wild « , sagte einer der Geschichtenerzähler ernst. Ein anderer erinnerte sich an eine noch ältere Geschichte, die behauptete, dass die Derai gar nicht von Haarth stammten, sondern vor langer Zeit von den Sternen gekommen waren. Sie erbauten, so sagte der Erzähler mit gedämpfter Stimme, ihre großen Festungen in einer Nacht und einem Tag, während die Welt nach ihrer Ankunft immer noch erschüttert war. Die Ebenen waren durch Erdbeben und Feuer gespalten worden, jeder Fluss und jeder See kochte, und als die Umwälzung ein Ende hatte, erstreckte sich der riesige, schreckliche Wall der Nacht entlang der nördlichen Grenze der Welt.
    Rowan hatte diese Geschichten schon früher gehört, doch die Anwesenheit der Derai unter ihnen ließ die Berichte wahrer erscheinen. Ihr Großonkel, der Schamane, hatte den Geschichten und Spekulationen gelauscht, aber nichts gesagt. Er nickte nur und lächelte, als der Rauch des Feuers sein faltiges Gesicht einhüllte. Später, als alle anderen schliefen, hatte er sie mit leuchtenden, listigen Augen angeschaut. » Es ist kein Zufall, dass sie hergekommen sind « , sagte er. » Der Winter hat sie hergebracht. « Rowan fühlte sich verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass der Winter nicht alle gebracht hatte. Mehr als die Hälfte der Derai-Gruppe war verstorben. Er hatte nicht geantwortet. Sie stammten beide aus dem Winterland und wussten, dass die Schwachen und Unvorsichtigen dem Winter Tribut zollen mussten.
    » Leben und Tod « , dachte Rowan jetzt. Der Wallwind kreischte wieder. » Tod und Leben, doch nicht, wie die Derai diese Dinge sehen. Sie haben keine Vorstellung von dem endlosen Kreislauf der Winterwelt. «
    In diesen ersten Tagen war ihr letzter Gedanke gewesen, dass sie sich möglicherweise in einen dieser mürrischen, dunkelgesichtigen Fremden verlieben könnte. Sie hatte sich nur gewundert, dass sie sie nicht dafür verachtete, sich vom Winter überraschen zu lassen. Sogar die härtesten Jäger schienen ihnen widerwillig Respekt zu zollen. » Du kannst nicht die, die gestorben sind, schwach nennen « , sagte ihr Großonkel, als sie ihm das sagte. » Nur wenige von uns hätten einen derartigen Sturm überlebt. Deshalb müssen wir die Überlebenden besonders stark nennen. Ihr Graf ist ihr Herzstück, der Magnet. Die anderen Überlebenden sind Feilspäne, die sich besonders gut an ihm festgehalten haben. Es sind die mit dem meisten Eisen in der Seele. «
    Sie hatte daraufhin die Derai aus einem neuen Blickwinkel betrachtet, besonders diesen Tasarion, den Grafen der Nacht. Dabei entdeckte sie die Wahrheit in den Worten ihres Onkels. Sie beobachtete, wie er die Disziplin der Derai aufrechterhielt, während die Wochen dahinschlichen. Ein vernichtender Sturm folgte schnell auf den nächsten. In den wenigen klaren Tagen dazwischen war gerade genug Zeit zum Jagen und Einatmen der klaren, unglaublich trockenen Luft. Für eine Rückkehr der Derai in ihr eigenes Land reichte es nicht. » Frühling « , sagte man ihnen sanft, aber bestimmt. » Ihr müsst auf den Frühling, auf Tauwetter und Reisewetter warten. «
    Es gefiel ihnen nicht, doch sie versuchten, sich dem Leben in den sturmerprobten Hütten anzupassen. Langsam begann Rowan, sie zu mögen. Doch sie blieb dem Grafen und seinem Ehrenhauptmann Asantir gegenüber auf der Hut. Sie waren die höflichsten der Derai, die geduldigsten bei dem eingeschränkten Leben, wenn die Stürme wieder bliesen. Doch es war schwierig, sie kennenzulernen. Als ob sie ihre Höflichkeit wie einen Schild benutzten; eine polierte Barriere, die nur das durchließ, was sie andere sehen lassen wollten. Sie brauchte auch nicht ihren Großonkel, der in seinen Schamanenrauch blickte, um zu wissen, dass von all ihren merkwürdigen Gästen der Graf und Asantir die gefährlichsten waren.
    Der Schamane nickte, als sie diesen Gedanken mit ihm teilte. » Natürlich. Und wie alle guten Waffen werden sie tief einschneiden, wenn man auch nur einen Moment in ihrer Gegenwart unvorsichtig oder nachlässig ist. «
    Rowan sagte ihm nicht, dass sie den dunklen, fremden Reiz ihrer Gäste faszinierend fand. Der Graf der Nacht war wunderschön, wie ein Symbol des Alten Reichs, das in das Elfenbein eines Narwals

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