Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
»Commencez!« , bellte er.
Trommelschlag setzte so plötzlich ein, dass Andreas zusammenzuckte. Die Offiziere machten eine Kehrtwendung. Andreas hatte den Unseligen mit dem Strick um den Hals, der barfuß und im Hemd im Schnee stand, vollkommen vergessen. Jetzt trat der Mann daneben zu ihm und zog die Schlinge des Stricks zu. Der Verurteilte begann zu jammern und streckte seine gefesselten Hände in Richtung des Generals und seiner Offiziere aus. Der Trommelschlag beschleunigte sich, bis er so schnell schlug wie Andreas’ unvermittelt hämmerndes Herz.
»Quartier, Euer Gnaden, Quartier!«, schrie der Verurteilte mit schriller Stimme.
Der Mann neben ihm, offenbar der Henker, verabreichte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. Dann trat er beiseite und packte den Strick. Der Verurteilte kreischte etwas völlig Unverständliches. Der Schnee zwischen seinen Füßen dampfte – seine Blase hatte nachgegeben. Der Henker zog den Strick an, bis er stramm war. Das Geschrei des Todgeweihten wurde abgeschnitten, sein Körper streckte sich, um der plötzlichen Enge der Schlinge entgegenzuwirken. Der Henker warf dem General einen fragenden Blick zu.
»Doucement« , sagte der General kaum hörbar. »Der Kerl soll was haben für seine Müh’.«
Die Offiziere lachten über das zynische Zitat. Der Henker nickte. Zwei seiner Helfer traten hinzu und packten den Strick. Dann zogen sie ihn ganz langsam in die Höhe. Der Verurteilte stellte sich auf die Zehenspitzen, sein Körper streckte sich nochmals, seine Füße verloren den Boden und begannen zu baumeln, dann zu strampeln. Andreas starrte sie an, sein Herz wollte vor Entsetzen zerspringen. Seine Hände schmerzten, so sehr ballte er die Fäuste. Er konnte den Blick nicht in das Gesicht des Hängenden heben und wollte es auch nicht tun. Das Strampeln wurde immer wilder. Krächzende Geräusche drangen an Andreas’ Ohr. Das Strampeln ging in ein Zucken über, bei dem sich die blaugefrorenen Zehen spreizten. Flüssigkeit flog in dicken Tropfen von den zuckenden Füßen weg. Andreas wollte nicht wissen, was es war. Er spürte den Strick am eigenen Hals, die eigene Atemnot, hatte das Gefühl, wie die Umgebung hinter einem roten Schleier verschwand, als ob in den eigenen Augen die Blutgefäße platzten. Das Krächzen ging in ein Gurgeln über. Die Füße hingen plötzlich still. Dann krümmten sich die Zehen ein, und die Beine zogen sich an bis in Kniehöhe … blieben in dieser Stellung … stießen sich in einer letzten, konvulsivischen Zuckung nach unten weg … der Schnee begann erneut zu dampfen …
»Voilà«, sagte General Königsmarck. Ein letztes Gurgeln verklang. Über dem gesamten Richtplatz sank eine Stille herab, als wäre die Zeit angehalten worden. Andreas fühlte sich am Kinn gepackt und sein Kopf herumgedreht. Seine Augen zuckten, als sich die Blicke des Generals in sie bohrten.
»Der Mann war ein Deserteur«, sagte der General. »Er hatte einen Befehl, und der lautete, Wache zu gehen. Er hat den Befehl missachtet und versucht, sich abzusetzen. Leider ist er mir direkt in die Hände gelaufen, als ich heute im Morgengrauen ins Lager zurückkehrte. Er ist ein Ehrenmann,Ratsherr Khlesl? Ich will Ihn nicht dazu zwingen, Seine Ehre zu beschmutzen. Er wird Seine Heimat nicht aus freien Stücken verraten. Er wird einem Befehl folgen, weil Er jetzt als mein Gefangener unter meinem Kommando steht und ich Ihm Befehle erteilen kann. Der Befehl, Ratsherr Khlesl, lautet, dass Er mir die schwache Stelle in der Verteidigung Seiner Stadt mitteilt.« Der General zwang Andreas’ Kopf herum, bis dieser wieder den Gehängten anblicken musste. Der Henker und seine Männer hievten ihn höher, sodass er von allen gesehen werden konnte. Ob sein letzter Gedanke dem Umstand gegolten hatte, dass nur ein paar Fingerbreit zwischen seinen Zehenspitzen und dem rettenden Boden gewesen waren? »Komm Er nicht auf den Gedanken, meinen Befehl zu missachten«, flüsterte der General.
Dann ließ er Andreas los und wischte sich die Hand gelassen an seiner Hose ab. »Er stinkt wirklich wie eine Canaille«, sagte er. »Weiß Er, warum ich nicht mit den Herren Tilly und Wallenstein in einer Linie stehen will? Weil sie tot sind, und ich werde leben. Folge Er mir zu meinem Zelt, damit Er mir alles erzählen kann.«
Sie waren noch keine zehn Schritte weit gekommen, als ein Soldat keuchend aus der Richtung des Lagers herbeirannte. »Euer Gnaden!«, schrie er und winkte mit den Armen. »Euer Gnaden!« Ein
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