Die Erdfresserin
ein Verrückter mit dem Arm.
»Kellner«, brüllt er. »Kellner! Ein Mineralwasser noch, bitte.«
Wir lehnen uns in unsere Plastikstühle zurück, in den Schatten der Kastanien, die den Garten in dschungelhaftes Grün tauchen.
*
Ich habe in meiner luftgefüllten Folienblase Platz genommen. Ich atme vorsichtig ein und aus, leise, unauffällig, ich halte eine Frauenzeitschrift in der Hand und erwecke gerne den Anschein einer Leserin, während ich an dem bunten Magazinrand vorbei auf den hygienisch gepflegten Boden schiele.
Spiegelnd heben sich die gerade gereinigten Flächen von den vernachlässigten Bereichen ab. In der Spiegelung kann man sich gestochen scharf sehen, ich sehe die Beine der Putzfrau im braunen Kittel, ihre weißen Socken in beigen Gesundheitsschuhen, ihre kräftigen Waden mit Krampfadern marmoriert, in rhythmischer Bewegung, sie tanzt mit ihrem Besen, wie Aschenputtel vor dem Ball, in den kurzen Pausen zieht sie ihr Fachbedarfswägelchen hinter sich her. An den Wänden sitzen die Zuschauer und folgen ihrer Darbietung.
Die guten kommen später ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Es ist hektisch und still außerhalb meiner Blase. Uniformierte Beine, dann langsam die zittrigen Füße in Hausschlapfen, Stöckelschuhe auf unpassenden Socken, silberne Räder der Tragbahren, Krankenstühle wie überdimensionale Kinderwagen.
In der Ferne jault jemand langgezogen, nicht so, wie die Hunde am griechischen Strand, sondern schrill und ängstlich.
Jemand bricht neben den Toiletten zusammen, jemand isst intensiv einen Hotdog und trinkt dazu, es riecht nach süßem Dosengetränk und scharfem Senf, es zischt, jemand weint.
Wir sind in eine Notlösung eingelegt, wie in Nährflüssigkeit, Nährflüssigkeit, die vermutlich ein paar Stöcke über uns in jemandes Magen durch die Sonde gepumpt wird, wir sind alle eine Notlösung, die Frau mit dem fiebernden Kind und den Augenringen genauso wie die kotzende Alte, der Wehrdiener mit Pickeln im Gesicht und einem Gipsbein im Rollstuhl, der Alkoholiker, der gerade die Flüssigkeiten seines Körpers in die Außenwelt entlässt, ohne es zu bemerken. Alles in allem würdig, eines Notfallraums würdig, eines Notfallraums der Notfallambulanz, die gerade umgebaut wird. Der Notfallraum wird renoviert und die eintrudelnden Gastkörper auch, sofern sie sich reparieren lassen.
Überall gespannte Folie, die gespenstisch im Zug der ab und zu aufgleitenden Schiebetür ein- und ausatmet, mal schneller, mal langsam, federleichte Pseudolungenflügel heben und senken sich mit leisem Knistern, manche Patienten hier wären froh, ein so einwandfrei funktionierendes Organ in ihrer Brust zu tragen, so einer sitzt neben mir, in den orangen Plastikschalensitz eingesunken, mit einem durchsichtigen Plastikbügel auf der Nase, Plastik in den Nasenlöchern, am Rücken, über dem Kopf.
Er sieht mich nicht an, niemanden sieht er an. Niemand sieht hier jemanden an, jeder ist in seinem Unglück vollkommen und abgeschottet und gänzlich uninteressiert.
Er zieht an seinem Nasenschlauch wie an einer Wasserpfeife auf dem Basar, die Feuchtigkeit in seinem Sauerstoffgerät gurgelt fröhlich mit.
Ich sitze im Wartezimmer der Notfallambulanz und warte auf Leo, einen Arzt oder wenigstens auf eine Krankenschwester. Durch die verhängten Fenster kann man das Leuchten des Vollmondes erkennen, groß, gelb, intensiv, und die Lichter vorbeifahrender Autos. Es hat geregnet und der Asphalt spiegelt den Himmel zurück, wo er hingehört. Das Wartezimmer ist ein großer Raum, der in der Mitte von einem Plastikvorhang getrennt wird, in den Raum der Wartenden und einen Raum der Empfangenden, durch die Spalten, die sich in der weißen Gardine auftun, erkennt man einen weißen Tisch und eine Lampe und weißgekleidete Gestalten in einem hellen Raum. Die einzigen Farbtupfer sind Haare, Hände und Gesichter.
So steril ist es hier, dass es tot ist, ich vermisse den Geruch der Erde, ich vermisse ihre Unregelmäßigkeiten und Veränderungen, die Zeichen von Leben sind, alles, was steht, ist gestorben, die Luft steht hier und die Zeit.
Die Zeit steht, obwohl das Ticken der silbernen Uhr auf der Wand hinter mir deutlich zu hören ist, metallisch abgehackt klingt sie wie die vielen kleinen silbernen Instrumente am Tisch des Arztes, als er sie wieder ablegt, wie jetzt eben. Er legt sie nicht ab diesmal, er wirft sie fast hin, seine Stimme verstärkt sich um mehrere, gereizte Töne, hinter dem Vorhang kommt irgendetwas
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