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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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loslassen müssen.« Und das Seufzen des Begleiters und eine zufallende Tür gleich darauf.
    Während er und die Geräusche seines Hinauswurfs sich immer weiter entfernen, wächst der Lärm im Eingangsbereich gewaltig an, ein Rettungswagen fährt mit Blaulicht und Sirene vor, mehrere Ärzte laufen hektisch an mir vorbei, einer trägt eine schwere Kiste mit Ausrüstung, seine Kollegin schaut ernst und lächelt kampflüstern, bereit, sich dem Verderben in den Weg zu stellen, fast stolz.
    Als die Rotkreuzamazone verschwunden ist und die automatischen Türen sich hinter dem kleinen Trupp geschlossen haben, rollen Krankenschwestern ein zusätzliches Bett auf den Gang und verscheuchen Angehörige, die sich vor dem Schockraum zusammengeballt haben. Wie im Wetterhäuschen öffnen sich Türen, um Lebende und Tote, Gesundende und Erkrankte passieren zu lassen, sie machen Lärm, und Wind machen sie auch. Ich ziehe meinen Schal fester um meine Schultern, der Wind ist kühl, draußen hat es zu regnen begonnen, die sich erneut öffnenden Glasfronten atmen Feuchtigkeit herein.
    »Haben Sie eine Zigarette?«, fragt mich der Grundwehrdiener. Wie hat er es bloß geschafft, unbemerkt so nah an mein Gesicht zu kommen? Ich kann die weißen Eiterkügelchen, von einer dünnen Hautschicht überzogen, unter den roten Hügeln auf seiner Stirn deutlich erkennen. »Immerhin verteidige ich Ihre Heimat.«
    Sein Atem weist ihn als denjenigen aus, der hier vor kurzem den Hotdog verspeist hat. Ich schüttele sadistisch den Kopf. Ich würde selbst gerne rauchen, aber Leo hat die Zigaretten in seiner Manteltasche, und der Mantel ist bei Leo geblieben. Wo Leo geblieben ist, weiß ich immer noch nicht.
    »Ich riskiere hier nämlich meinen Hals für Sie«, fügt er anklagend hinzu. »Jetzt habe ich mir beim Manöver das Bein gebrochen. Sehen Sie?«
    Er hebt den vollgekritzelten Gips.
    »Sicher nicht«, lächle ich ihn an, er hört meinen Akzent und dreht sich weg, ohne ein weiteres Wort an mich zu verschwenden.
    Bevor er zu der Frau gegenüber rollt, rufe ich ihm noch hinterher: »Rauchen ist schädlich für Kinder.«
    »Verpiss dich«, murmelt er leise, und dann höre ich ihn wieder fragen: »Haben Sie eine Zigarette für mich?«
    Sie antwortet, auch sie spricht nicht gut Deutsch, viel schlechter als ich sogar, und sie weiß es und stottert, als würde sie sich der mangelhaften Satzerzeugnisse schämen, die ihren fremden Mund verlassen, und wieder hat der arme Junge niemanden erwischt, dessen Land er verteidigen könnte.
    Als ich schon nach Leo gefragt habe und endlich erfahre, dass er nicht wiederkommt und schon auf die Station gebracht worden ist, dass ich seine Tasche abgeben kann und seine Hoffnungen, und dass ich heimgehen kann, denn es bricht bereits der Morgen an, als ich also schwankend aufstehe und zum Ausgang gehen will, kommt mir einer entgegen, der mir bereits bekannt scheint. Beim nochmaligen Hinsehen erkenne ich den Babymumienmann von vorhin. Er wird von zwei genervt-zerknirschten Sanitätern in die Empfangshalle zurückgeleitet und wirkt beleidigt wie ein Kaiser, der einen Putschversuch hinter sich hat, aber dennoch siegreich ist.
    Er tritt majestätisch an den Schalter der Empfangsdame heran, legt seinen Arm auf die Schalterablage, und ich denke erst, dass er einen Strumpf darüber gezogen hat, und dann erkenne ich, dass die Haut mit roten Striemen aus geronnenem Blut geringelt ist, und er verkündet: »Ich hab’s doch gesagt: Wenn ich verweigere, können die mich nicht aufnehmen auf der Baumgartnerhöhe, das weiß ich. Und Sie müssen mich behandeln, das weiß ich auch.«
    Dann schließt sich die Glastür hinter mir und ich stehe draußen, den letzten Rest des Vollmonds über mir und im nassen Asphalt zu meinen Füßen, mein Kopf ist schwer und ich will nur noch schlafen, aber ich reiße mich zusammen und trotte den Gürtel entlang, dorthin, wo die Lichter der Lokale noch brennen.
    *
    Zwei hübsche Rettungsfahrer bringen einen grauen Plastikledersitz mit Leo darauf in die Wohnung, Leo ist schwer und sie schwitzen sichtlich, Leo pendelt zwischen ihnen wie auf einer Schaukel, leicht hin und zurück, und er strahlt übers ganze Gesicht, strahlt wie ein kleiner Junge, wenn die Großmutter mit seinem Lieblingskuchen und einem gekühlten Saft auf dem lackierten Tablett in den Garten tritt, wie es meine Mutter niemals für meinen Sohn gemacht hätte, der niemals lachend auf einer Schaukel schwang, den Kopf zurückgelehnt und die Haare

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