Die Erdfresserin
in Bewegung. Ich möchte fragen, wann Leo wiederkommt, ich will wissen, ob ich heute alleine von hier wegfahre oder nicht, ob ich mich neben Leo schlafen legen kann oder doch noch zur Arbeit muss, wenn er nicht da ist.
Ich beuge mich vor, der Vorhang schwingt kurz zur Seite, man sieht die Menschen dahinter endlich ganz, unzerteilt von weißen Stoffplastikbahnen, und ich erkenne den Patienten, der eine heftige Auseinandersetzung mit dem dicken Arzt zu haben scheint: Er ist erst vor einer Dreiviertelstunde frisch verbunden an mir vorbeigegangen, Richtung Ausgang, mit sehnsüchtigem Blick auf den großen vollen Mond hinter der Glasscheibe und von einem Pfleger aufmerksam gestützt.
Ich habe nicht mitgekriegt, wie er den Kreisverkehr von dem Ausgang des Spitals wieder zur Erstaufnahme und in den Bereich hinter den Vorhang geschafft hat, ungefragt backstage sozusagen, und der Arzt ist genauso gereizt wie jeder Regisseur, der einen Zaungast in den Räumen, die den Schauspielern vorbehalten sind, vorfindet.
Der Patient ist ein Mann von ungefähr Mitte bis Ende dreißig, er hat einen weinerlichen Gesichtsausdruck und blonde Löckchen, die ihm etwas Kleinkindhaftes verleihen, und als er den Mund verzieht und antwortet, klingt seine Stimme quäkend.
»Ich will, dass Sie mich aufnehmen!«, verlangt er, während er hurtig den Verband abwickelt, der noch vor nicht einmal einer Stunde kunstvoll um seinen Arm angebracht worden ist, die Hälfte des Stoffes hängt bereits zwischen seinen Schenkeln bis zum Boden hinunter und verleiht ihm etwas schlampig Mumienhaftes.
Babymumie, denke ich mir, vorgealtert, aber kindchenhaft geblieben.
»Sie sind bereits behandelt worden«, sagt der Arzt schon ziemlich laut, sodass sich andere Patienten vorbeugen und hineinspähen wollen.
»Bin ich nicht«, kreischt die Babymumie empört. »Ich bin gerade erst gekommen.«
»Ich habe Sie vor einer Stunde behandelt«, wiederholt der Arzt etwas leiser.
»Ich will, dass Sie mich sofort aufnehmen.«
»Sie haben sich selbst verletzt und ich habe Sie bereits verbunden.«
»Ich hab gar keinen Verband!«, triumphiert die Mumie.
»Sie haben ihn gerade heruntergewickelt.«
Der Arzt weist mit eleganter Handbewegung Richtung Boden, wo sogar ich von meiner Position aus ein weißes Mullhäufchen am Boden erkennen kann.
»Wenn Sie mich nicht behandeln, gehe ich nicht weg. Ich bin ein vollwertiger Patient.«
Vollwertiger!
Die Mumie wird immer lauter, während der Arzt immer leiser und langsamer wird, fast väterlich wird er, gediegen. Am Ende der Diskussion haben sie sogar einen Kompromiss zusammengebracht: Der Verband wird erneuert, woraufhin sich der Patient verpflichtet, nach erfolgter Behandlung, die, je nach Blickwinkel, die erste oder bereits die zweite darstellt, widerspruchslos nach Hause zu gehen.
Routiniert werden die letzten Zipfel des Stoffes um das dargebotene Handgelenk gewickelt, der Patient zieht den bandagierten Arm zurück, erhebt sich. Der Arzt verabschiedet sich erleichtert, während er wortlos zum Vorhang geht, ihn zurückschiebt, einen Schritt in den Warteraum macht, am Absatz wendet und wieder zurückkommt, felsenfest wie in die Mitte des Behandlungszimmers geschraubt stehen bleibt und wiederholt: »Ich will, dass Sie mich aufnehmen.«
Eigentlich hat er gar nicht unrecht, denke ich mir, ich will das eigentlich genauso dringlich wie er, jeder will doch irgendwie aufgenommen werden, jeder ist bereit, sich dafür zu entblößen.
Der Arzt blickt ihn unter der Brille hervor an, er schweigt, er schätzt. Dann macht er mit einem entschlossenen Ruck den Vorhang so zu, dass niemand mehr hindurchsehen kann, obwohl das Schauspiel bereits einige Zuschauer angezogen hat, der pickelübersäte Grundwehrdiener ist mit seinem Rollstuhl näher herangefahren und hat seine abstehenden Ohren wie eine Satellitenanlage so nahe wie möglich in Stellung gebracht. Er bemerkt mich, die ihn beobachtet, lächelt ertappt und grinst mich an. Ich lächle nicht zurück, und er wird so rot zwischen seinen Satellitenschüsseln, dass die Tupfen der Pickel auf seiner Haut nicht mehr auszumachen sind.
Der Frischverbundene und Bleibewillige wird an den staunenden Wartenden vorbei unsanft von einem Pfleger Richtung Ausgang entfernt, er hängt sich an dessen Arm wie ein Kind, das Gummipuppe spielt, und hinter mir, weit gangaufwärts, höre ich ihn noch klagen: »Ich muss aufs Klo! Lassen Sie mich los!« Und dann, als keine Reaktion folgt: »Ich weiß, dass Sie mich
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