Die Erdfresserin
seine Zukunftswegweiser.
Er hat schon so viel Materielles losgelassen, warum denn noch mehr. Seine Eltern beginnen schon unangenehme Fragen zu stellen. Andererseits erzählt er mir manchmal, wenn wir uns abends sehen, dass es ein tatsächliches Gefühl von Reinigung ist, ein geradezu buddhistisches Feeling, Feeling hat er gesagt, und ich habe an Taschentücher und an WC-Steine denken müssen, an Kondome.
Ich verdränge das Gefühl, das mich manchmal überkommt, wenn wir uns treffen, das Gefühl, das ich von meinem Sohn kenne, es ist nicht das gleiche, aber ähnlich, dieser hilflose Männerkopf, der an meiner Brust Schutz sucht und Rettung. Diese Entspannung macht mich wütend, ich könnte morden, ich könnte diesen Kopf, der mit geschlossenen Augen blind an meiner Schulter ruht, in meinen Händen zerquetschen wie überreifes Obst, ich könnte schreien.
Aber ich bleibe still sitzen, nehme diese Hilflosigkeit in mir auf, ruhig und gleichmäßig, bis der Rhythmus meines Atems in seinen übergreift und ihn beruhigt, bis sich unsere Brustkörbe in einen verwandeln und ich nicht mehr trennen kann, wo sein schaler Atem meine Haut streift und wo meiner.
So sitzen wir stundenlang, im Finstern aneinander gelehnt.
*
Die grüne Linie der Bäume hebt sich und schwenkt nach links ab, die Sonne blendet plötzlich, bevor wir wieder in den Schatten getaucht werden, bunte Plakatwand, Kassahäuschen, eine Traube Besucher, ein Kiosk mit rosa Zuckerwatte, laute Musik.
»Es geht weiter, meine Herrschaften«, dröhnt die übermenschlich verstärkte Stimme mit blechernem Unterton, »wer kann nicht mehr? Wer hat noch nicht?«
Unter meinen Schuhen pfeift der Fahrtwind, Leo hält mich an den Schultern fest, mit der anderen Hand drückt er seine Brille fester ins Gesicht. Wir drehen uns erneut nach rechts unten und gleich darauf wieder schräg hinauf. Die silberne Gondel schwingt unerwartet im Drehen um die eigene Achse, Boden und Himmel vermengen sich, ein großes Gebäude mit ausgestopften Monsterkörpern auf dem roten Sims fliegt vorüber, sie heben die Krallen und senken die Arme entmutigt wieder ab, nachdem sie schon wieder ins Leere gegriffen haben. Jemand kreischt.
Es riecht nach Bratwurst und in Fett gebackenem Teig, nach Bier und Erbrochenem.
Leos Schal klatscht mir ins Gesicht und raubt mir die Sicht, und Leo lacht, lacht lauthals und unbekümmert, tief aus seinem Bauch heraus, während ich versuche, meine Hand aus seiner zu lösen, um mich wieder zu befreien. Er lässt absichtlich nicht los, und ich knuffe ihn mit dem Ellbogen und muss plötzlich selbst lachen, mitten im Flug. Nur ich und Leo und unser Gelächter.
Alles ist unerwartet und schwerelos, losgelöst vom Üblichen wie meine Füße aus den unbequemen Pumps, die zu Hause unter Leos Bett liegen. Mein Magen hebt sich der Kehle entgegen und es kommt doch nur Luft heraus, nichts Anrüchiges. Ich hole Fahrtwind in meine Lungen hinein und stelle mir vor, wie er alles Verkrustete und Sieche aus mir hinausbläst, in zwei feinen Strömen aus meinen Nasenlöchern und in einem Schwall Lachen aus zahnarztweit geöffnetem Mund. Die Gondel verliert an Geschwindigkeit und bremst schwungvoll an der Ausstiegsstelle, hinter uns stöhnt jemand.
»Du Lahmarsch«, spottet die junge Frau, die ihren Freund aus seinem Sitzplatz hieven muss, er ist ganz grün im Gesicht und hat eine glänzende Trenzspur am Kinn. Ihre Haare glänzen ebenfalls. Frisch errötet in der Sonne.
Ihre Hüfte quillt aus der engen Hose, als sie sich bückt, um ihn besser zu fassen zu kriegen. Über dem blauen Jeansbund erscheint eine bäuerlich anmutende Zierleiste, blau auf blasser Haut, die ich erst mit einer verfrüht auftauchenden Vene verwechsle.
Die Zierleiste wandert zuerst nach links und dann unmotiviert nach rechts, mir ist schwindlig. Der Boden, plötzlich bewegungslos, scheint immer noch unter meinen Sohlen, die ich hilflos brutal in die Erde bohre, zu fliehen.
»Haha, du Lahmarsch«, wiederholt Leo glücklich.
Er steht stabil und massig vor dem Geländer, das die Stufen zum Ausgang begrenzt. An ihm vorbei drängen sich zukünftige Passagiere, die glanzlackierten Greifarme der Todeskrake füllen sich erneut mit Wagemutigen und weniger Entschlossenen, die von ihren wenig einfühlsamen Begleitern unter verbalen Erniedrigungen zu ihrem Vergnügen gezwungen werden.
Hinter Leo dreht sich in einigem Abstand gemächlich das Riesenrad, das der allgemeinen Rummelplatzbeschleunigung seit Jahren erfolgreich
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