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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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trotzt. Speed kills, eine in Wien oft vertretene Haltung. Nur »hudeln« ist erlaubt.
    Hudeln habe ich in Wien erst erlernen müssen, war ich doch bis dahin nur ab und zu gehetzt oder überdreht. Hudeln erlaubt eine Art Kurzhysterie mit geringem Effizienzfaktor, zeitlich begrenzt und von niemandem verurteilt. Hätte die Französische Revolution in Österreich ihren Ursprung gehabt, hätte der Wiener um seine Freiheit gehudelt und den Plan zugunsten von frischen Powidltascherln in Semmelbröseln bald wieder fallengelassen. Die roten Waggons heben sich langsam dem Höhepunkt des gewaltigen Speichenrades entgegen, der Ausblick von ganz oben ist überwältigend, vor einer halben Stunde waren wir noch dort. Ganz Wien zu meinen Füßen liegend. Darauf habe ich lange gewartet. Japanische Touristen stehen geduldig Schlange, die Fotoapparate im Anschlag. Der Ort wird von den Kameras geliebt. Der dritte Mann. Sisi. Sogar Pornos wurden schon öfter in den sanft schaukelnden Kabinen gedreht.
    Leos Haare sind durcheinander und die Bäckchen gut durchblutet, die Brille sitzt ihm schief auf der Nase. Ich kann erstmals eine Ähnlichkeit zwischen ihm und den Fotos erkennen, die er mir gezeigt hat, Leo in Uniform, Leo auf Reisen, Leo im Dienstwagen, Leo am gedeckten Sonntagstisch seiner Eltern, die ganze Familie um den Gugelhupf gruppiert. Sogar eine Ähnlichkeit mit jenem Leo, der stolz einen Schulranzen und eine Minikrawatte trug und dessen Mutter ihm genauso stolz von hinten die Hand auf die Schulter legte.
    »Haha.«
    Ich lasse das Geländer los, an dem ich immer noch Halt suche, und mache einen ungeschickten Schritt auf ihn zu. Meine Füße, so fremd in bequemen Sportschuhen mit Strassbesatz, die Leo mir geschenkt hat, funkeln die Sonne in den Himmel zurück, die sich in ihnen spiegelt, und blenden mich. Ich versuche den luftleeren Raum zwischen den Sohlen und meiner Erde zu überwinden, um wieder Wurzeln zu schlagen. Beton fühlt sich falsch an. Ich kann ihn nicht spüren, ich torkle an Leo vorbei, der immer noch lacht. Endlich bin ich siecher als er, mit meinen Luftwurzeln abgespeist.
    Mein Magen legt sich ungefragt in die nächste Flugkurve, obwohl ich längst gelandet bin, ich habe keine Ahnung, wie ich ihn davon überzeugen soll, und stolpere in Richtung einer kleinen Grasfläche am Rand des asphaltierten Weges.
    Leo hat aufgehört zu lachen, ich sehe ihn aus dem Augenwinkel die Stirn runzeln, über seiner Sonnenbrille staut sich die Haut bis zum Haaransatz.
    Ich will nach der Erdfläche greifen, die grünen Halme einfangen, die sich vor meinen Augen in alle Richtungen bewegen, verliere das Gleichgewicht und kippe aus der hockenden Jagdhaltung auf die Knie, fange mich mit den Fingern und würge die Luftwurzeln hoch, die mir den Atem behindern, wie ein Hund altes Fell hochwürgt.
    »Was ist«, keucht Leo, der mir zu schnell gefolgt ist. »Ich hab geglaubt, du machst Spaß.«
    Auf seiner Stirn erscheinen wieder ein paar Schweißperlen. Ich spucke bitteren Schleim auf die Wiese, ziehe meine Finger aus der Erde, ziehe meine Knie vom Gras hoch, richte mich auf, spucke nochmals aus, streife meine Hände an meiner Hose ab und lächle ihn an.
    »Ich hab Spaß gemacht«, sage ich.
    »Wirklich?«, bohrt er misstrauisch nach.
    »Ja.«
    Meine Stimme klingt so fest und überzeugend, wie sie klingt, wenn ich meinem Sohn verspreche, bald wieder da zu sein. Ich dulde keinen Widerspruch.
    »Echt, wirklich«, greint Leo weiter, der den Unterton nicht kennt.
    »Hast du zugehört«, zische ich ihn an und greife seine Hand so fest, dass die Knorpel knacken. Leo lacht unbeholfen, weil jede Aggression ihn verlegen macht, statt ihn in die Schranken zu weisen oder zu erniedrigen.
    »Na dann ist ja gut.«
    Er zieht ein wenig verwirrt an seiner Hand, die in meiner eingeschweißt ist, und als er sie nicht sofort freibekommt, versetzt er unsere beider Arme in sanften Schwung, hin und her, bis wir dastehen wie ein jugendliches Liebespaar.
    Und als ich darüber schmunzeln muss und meine Finger aus der Umklammerung löse in einen angenehmen Händedruck, lässt er nicht los, sondern streicht über meine Haut.
    Wir setzen uns gleichzeitig in Bewegung, aufeinander zu und geradeaus die Gasse zwischen den Vergnügungsbuden entlang, Pferdekarussell mit stechendem Tiergeruch links, Spielhalle rechts, dann ein Schießstand mit riesenhaften Plüschtieren und Papierrosen, Leo will mir eine schießen, aber ich lache ihn aus, und er lässt es bleiben, und ich lehne

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