Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
Vom Netzwerk:
langem nicht mehr schreien gehört, wie ungewohnt es ist. Ihre Stimme kippt und ist sofort rauh und brüchig.
    »Wir hätten die verdammte Heizung nicht gebraucht!«, brüllt sie. »Wir haben den Zubau nur seinetwegen gemacht! Wenn du dein Leben versauen willst – gut, mach es, Diana! Aber lass meines in Ruhe!«
    »Du hättest auch zu zweit gefroren.« Meine Stimme wird verkehrt proportional zu ihrer leiser und geschmeidiger.
    »Pjotr hätte uns zu sich geholt«, bricht es aus ihr hervor, »er hätte genug Platz für uns beide, für Mutter und mich, und wir hätten das alte, riesige, unnütze Haus verkauft, das man kaum heizen kann, weil es aus Stein ist und dunkel und alt!«
    Ich muss grinsen. Mein Schwesterchen hegt Brautträume, mit über fünfunddreißig Jahren, mit ihrem kantigen Gesicht, mit ihren ungelenken, großen Händen.
    »Du machst uns allen das Leben zur Hölle«, stößt sie hervor.
    »Ihr lebt mehr als gut von meiner Hölle«, sage ich.
    »Bleib hier«, sagt sie, leise, heiser und schnell. »Bleib hier, mit deinem Sohn. Behalt das Haus. Aber lass mich gehen.«
    Ich nähere mein Gesicht dem ihren, bis ihre Augen zu einem riesigen, verschreckt blinzelnden Zyklopenauge zusammenwachsen. Sie will zurückweichen, ich halte ihren Kopf fest. Mit diesen Händen habe ich bereits Männer bewusstlos geschlagen und schweres Bühnenmaterial eigenhändig durch die Kulissen geschoben, wenn ich nachts im Theater blieb, um mir neue Bilder durch den Kopf gehen zu lassen.
    »Das, Schwesterchen«, hauche ich in ihr Ohr, »das solltest du Mutter sagen.«
    Sie versucht sich aus meinem Klammeraffengriff zu lösen, ich lasse los, ein paar Strähnen langen, farblosen Haares bleiben in meinen Handschuhen verfangen zurück.
    »Du hast uns das alles eingebrockt«, zischt sie mich an.
    Ich blicke auf meine Uhr. Der Bus müsste jede Minute kommen. Ich wende mich ab. Sie bleibt stehen, sie sieht mir nach.
    »Nächste Woche schicke ich das Geld«, schreie ich, als der Bus losfährt.
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

»Wie sind Sie hergekommen?«
»Es war nicht schwer.«
»Wo haben Sie die Grenze erstmals überquert?«
»Zum Dorf an der Grenze ging ich eine Landstraße entlang.«
    2
    Zum Dorf an der Grenze gehe ich eine Landstraße entlang. Ich gehe Stunden.
    Links und rechts von mir wogen riesige Flächen mit Hafer und Gras. Dunkelgrün, helles Grün, golden. Es riecht nach Kuhdung und Blumen, nach Chemie und ab und zu nach Benzin, wenn mich ein Auto überholt. Staub und Kies unter den Reifen. Manchmal nehmen mich die Leute mit, bei manchen steige ich nicht ein. Die Sonne steht hoch am Himmel. Kaum eine Wolke ist zu sehen. Der schwache Wind bringt etwas Abkühlung. Ich setze mich am Wegesrand hin, als ich meine Füße nicht mehr spüren kann. Ich habe es nicht eilig. Die Grenze am Tag zu überqueren, wäre nicht nur töricht, sondern geradezu halsbrecherisch. Wenn die Soldaten mich erwischen, bringen sie mich nicht hierher zurück, sondern viel weiter, und wenn ich Pech habe, werde ich noch früher von Anrainern entdeckt, die für gute Tipps Geschenke von der Grenzpatrouille erhalten. Die Geschenke ergeben sich aus den Habseligkeiten der Aufgegriffenen. Denen, die noch naiv genug sind, nimmt man ihr Hab und Gut als »Bestechung« ab, die nichts bewirken wird. Den anderen, die man schon kennt wie Menschen auf der Straße, die einem immer wieder über den Weg laufen, als Denkzettel.
    Verzweiflung lässt sich weder in Geldbeträgen noch in Worten messen, und die nächste Begegnung mit den üblichen Verdächtigen ist vorprogrammiert. Ich kenne also sowohl das Procedere als auch diese staubige Straße bestens. Ich habe sie unzählige Male ungestraft passiert und werde es wieder tun. Ich trinke aus meiner Plastikflasche, das Wasser ist warm und abgestanden. Etwas weiter vorne gibt es einen Brunnen, an dem ich die Flasche auffüllen werde. Ich trinke in großen Schlucken.
    Über meinen schweißnassen Hals und unter mein Baumwollleibchen rinnt das Wasser zwischen meine Brüste. Ich werfe mir eine Handvoll ins Gesicht und leere den letzten Rest ins Gras, lege mich zurück und spüre nach, wo sich die Erde in diesem Augenblick unter mir befindet, ob sie sich bereits weitergedreht hat, ohne mich dabei zu beachten, mächtig und mitleidlos, aber ich habe es geschafft, ich bin immer noch da.
    Rücken an Rücken mit ihr.
    Schon wieder in Sicherheit.
    Die Kornkammer nennt man dieses Gebiet. Die Bauern

Weitere Kostenlose Bücher