Die Erdfresserin
eine, die überlebt, ich bin die, die weiß, wie man überlebt, und ich knie mich schnell nieder und versenke meinen Mund ins feuchte Erdreich, um diesem Hunger sofort und machtvoll Einhalt zu gebieten. Der Geschmack ist satt und nussig, die Farbe erinnert mich an Schokolade und nahrhaftes Brot, russisches Brot, das viel dunkler und gehaltvoller ist als das hier. Das falsche russische Brot knirscht zwischen meinen Zähnen.
Die Erde ist weich und feucht, Sommerregen hat sie für mich gelockert und erwärmt, ein Sonnenregen, den ich auf meinen Schulterblättern spüre, als ich mich nochmals vertiefe, den Kopf ganz hinabstoße und wühle, mit dem ganzen Gesicht, mit den Händen, ich hebe die Finger und stoße auch sie ins Erdreich hinein, ich penetriere die Erde, vor und zurück, und es gefällt mir.
Der Geschmack ist nicht nussig, die Farbe erinnert mich mehr an Exkremente, ein krankhaftes Dunkelbraun, das einen mühevollen Verdauungsweg hinter sich hat, nach Krankheit stinkt und nach Verschlackung, diese Erdexkremente verfangen sich zwischen meinen Zähnen, legen sich um meine Zunge und verlangsamen meine Bewegungen, und ich spucke und setze mich auf und halte mir meine besudelten Hände vors Gesicht und beginne zu schreien, bevor ich die Finger alle in meinen Mund bohre, um den Schrei und den Dreck wegzuwischen, damit es zu spät ist.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
»Ich glaube, ich kann mich jetzt ein wenig erinnern.«
»Das ist schön.«
»Nein, schön ist es keineswegs, Herr Doktor.«
16
Es sollte regnen, aber es regnet nicht. Draußen ist ein warmer Herbsttag. Kinder schaukeln in kurzärmeligen Leibchen, ich höre ihr Lachen im Vorübergehen. Die Mütter haben Sonnenbrillen auf und ein Lächeln. Draußen lauert die Gefahr. Draußen ist es billig und dreckig und nicht standesgemäß, das hat meine Mutter zwar nie gesagt, aber angedeutet, mit einem Stirnrunzeln, einem abschätzigen Blick. Mit einer harschen Bewegung der Schulter unter dem strengen dunklen Kleid, während sie in der Küche die Edelsteine putzte, die noch ihrer Mutter gehört hatten, große durchsichtig geronnene Tränen von früherem Reichtum, in goldene Fassungen gezurrt und in Zeitlosigkeit. Sie würde eher hungern, als das alles zu verkaufen. Ohrgehänge, Geschmeide, ein Ring, gezackt wie ein Stern.
Eines Nachts, als ich in meinem Bett neben meiner Schwester hochschreckte, nicht mehr einschlafen konnte, auch nicht an ihren warmen Rücken geschmiegt, und mich auf den Gang stahl, sah ich sie. Wie sie mit Juwelen behangen reglos vor unserem Spiegel stand. Sie hörte mich und wandte sich um, und ich sah, dass auch ihr Gesicht glänzte, mit den Tropfen der Steine und ihren eigenen. Seit dieser Nacht wurde ich das Gefühl nicht los, meine Urgroßmutter und Ururgroßmutter hätten unser Erbe fürsorglich für uns geweint, Tropfen für Tropfen erstarrte Geschichte vieler, vieler Frauen, die durch unser großes, kühles Haus gingen.
Leos Haus hingegen ist für mich verloren, alles, was uns gemeinsam war, ist verloren. Alles, was mir gehörte, als ich Leo gehörte, ist vorüber, wie unsere Zeit vorüber ist. Das Schloss ausgetauscht und meine Schlüssel nutzlos geworden.
Es sollte regnen, aber es regnet nicht, keine Tropfen in meinem Gesicht, kein Schmuck auf meinem Körper. Heute will ich frei sein. Die Sonne strahlt, ein schöner Herbsttag mit rot leuchtenden Blättern im stahlblauen Himmel. Die Luft ist noch warm, hat aber bereits einen Teil jener Härte, den Frost, der noch kommen wird, ankündigt. Das Gras neben dem Gehweg ist nicht mehr frisch, aber auch nicht welk, die Natur befindet sich im Übergang, genauso wie ich. Ich gehe langsam den Weg entlang und suche Leos Adresse. Ich bin das erste Mal hier, und es fällt mir schwer, die richtige Abzweigung zu finden, eine Runde drehe ich sinnlos im Kreisverkehr um eine ausladende Statue. Es ist sehr ruhig hier, aber nicht still, ich höre die Vögel in den Bäumen, die Äste im Wind, Kies unter meinen Stöckelschuhen, der die frisch reparierten Pfennigabsätze wieder ruiniert.
Ab und zu höre ich Gesprächsfetzen, wenn ich an Familien vorübergehe, oder einzelnen Besuchern, denn auch diese lassen es sich nicht nehmen, mit den Besuchten ein kurzes Pläuschchen zu halten. Ich betrachte angestrengt die Namen auf den Schildern, Familie Brenner, Medizinalrat Hübl, der besonders schöne Blumenstauden hat. Ich sehe immer schlechter und habe keine Brille,
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