Die Erdfresserin
märchenhafte Blumenlandschaft. Ich lasse die Lider über meine müden Augen gleiten, dunkelrote Wärme umhüllt mich, behaglich wie das Sitzen am Feuer, mit einem gebratenen Apfel am Teller und einem Löffel Honig daneben, ein Buch am Schoß, das weder ich noch meine Schwester lesen können, aber um die Bilder darin streiten wir uns.
»Die da bin ich!«, schreit sie und legt ihren Finger auf die Darstellung einer schönen Kaufmannstochter, die den Prinzen ehelichen soll, mit einem Geschmeide auf der Stirn und einem kleinen pelzigen Muff, in dem ihre Hände verschwinden, sodass sie ihm nicht mal den kleinen Finger reichen kann, während er zu ihren Füßen kniet. Der Saum ihres Kleides hat dasselbe Muster wie die Zierleiste, die die Seite einfasst.
»Ich bin aber die! Die!«, antworte ich noch schneller und stecke meinen klebrigen Finger durch das Papier hindurch auf die andere Seite des Blattes, von dem ich annehme, dass das Bild darauf die verzauberte Froschkönigin zeigt, und bohre dabei ein Loch quer durch die schön gezeichnete Kaufmannstochterbrust im roten Festkleid.
Meine Schwester kreischt und rennt los, und ich bleibe aufrecht vor dem Kamin sitzen, weil es keinen Sinn hat, der Strafe entgehen zu wollen. Frost und Eis drinnen und draußen, klirrend, schmerzhaft, genau abgegrenzt von der Wärme rundum. Ich öffne die Augen, das Licht ist hell und schneidend, das Zimmer wieder da. Ich versuche mich zu bändigen, mich zu zwingen, weiter am Küchentisch sitzen zu bleiben, vor meiner Tasse mit erkaltetem Tee, mit meinen Bildern im Kopf, mein Sohn, ihm sinkt der Kopf auf die Brust, und er hat ein Bäuchlein angesetzt, ich werde bald wiederkommen, bald, bald.
Nur noch ein wenig, weiß ich, eine Aufgabe noch, und dann ist Ruhe, dann entspannen wir uns, dann ist die Heilung da, dann gibt es Segen. Der Segen der fruchtbaren Erde, der weiten Flur, des grenzenlosen Reichs, keine Grenzen mehr. Nie wieder!
Ich sehe die Tasse an, ich weiß nicht mehr, warum ich sie abgestellt habe. Es ist eigenartig, sie steht bestimmt schon lange da, der Dampf, der üblicherweise über ihr hängt, ist verschwunden, verschwunden wie viele meiner Gesichter im Nebel, wie meine Wege im Schnee, wie der Hauch, der über der gewaschenen Schwelle stehen bleibt, wenn man mit Leidenschaft wartet.
Kein Nebel über meiner Tasse, ich kann ihren Inhalt gut sehen, regloses, braunes Wasser, so reglos wie die Pfützen, durch die ich wanderte, die meinen Schritt geschluckt haben und ausgespien und wieder verschlungen. Verschlungen sind die Wege, verschlungen ist das braune Wasser, ich werde das alles nie wieder entwirren können, obwohl ich es versuche, so sehr, bis sich mein Magen zusammenkrampft wie Michals Ziehharmonika, aber ich bringe keine so schönen Töne aus ihm hervor, es riecht übel, und es klingt schlecht, alles, was ich loslasse, riecht übel, was aus mir hervorkommt, ist verdorben, und all meine nächtlichen Mahnwachen werden es nie ändern.
Ich nehme die Tasse, ich sehe sie an, das dunkle Wasser ist Bedeutung, es will mir etwas sagen, kein Zufall ist dieses Braun in diesem abgeschlagenen Weiß, ich muss den Hinweis nur noch richtig deuten, ich fühle es, ich bin mir ganz sicher. Und dann muss ich lachen, weil das zu Deutende doch lustig und so leicht ist, und ich werfe die Tasse mit einer weit ausholenden Geste aus dem Fenster, hinunter in den Innenhof, und sehe dem Teewasser zu, wie es sich in einem filigranen Bogen von ihr trennt und einen anderen vielgesichtigen Weg nimmt, und dann will ich es wissen, endlich wissen, wohin dieser Weg führt, wenn man ihn konsequent zu Ende geht, ich will ihn zu Ende gehen, konsequent, und ich laufe leichtfüßig aus der Wohnung und werfe die Tür zu, weil ich möchte, dass sich ihr Echo an meine Fußsohlen heftet auf dem Weg hinab und gemeinsam mit mir Töne macht, ich verliere einen Stöckelschuh auf meinem Lauf, und der Ton des einen Fußes verstummt, bleibt nur noch der andere und das Echo.
Ich stürme in den Hof, das Wasser ist verschwunden, es regnet draußen, fremdes Wasser überall, das mir den Weg weist, den ich kurzfristig wieder aus den Augen verloren habe, heim zu Mütterchen, hinunter zur Erde, die den gleichen Farbton hat wie mein Tee, und ich bekomme Durst, einen Hunger vielmehr, einen so großen Hunger, dass ich weiß, er füllt mich aus und wird meine Grenzen bald erreichen und überwinden, und dann löscht er mich aus, und bevor das passiert, knie ich mich schnell nieder, ich bin
Weitere Kostenlose Bücher