Die Erdfresserin
kleine warme Sonnenaufgänge nur für mich. Ich schnitt die erste Blume, die sich öffnete, ab und stellte sie in einem Glas aus geschliffenem Kristall neben mein Bett, um jeden Morgen daran riechen zu können, bevor ich aus dem Fenster sah.
Später kaufte ich neue Stöckchen in der Stadt, brachte sie in Seidenpapier gewickelt mit, vorsichtig wie ein Neugeborenes trug ich sie, vorsichtig wie das in viele Schichten Spitze gewickelte Paket, in dem fest eingewickelt und bewegungslos ein kleiner Mensch lag, von dem in den vielen bestickten Stoffbahnen nur das kleine, faltige und alte Gesichtchen sichtbar war, so wie ich später meinen Sohn brachte, vorsichtig und verschreckt. Ich setzte die Rosenstöckchen ein, wenn ich zu Hause war. Flammende, weiße, pfirsichfarbene Teerosen. Meine Schwester hatte gelernt, sie für mich zu pflegen, so wie meine Mutter später meinen Sohn pflegen würde, halb unwillig, halb erfreut darüber, eine Aufgabe zu haben und gebraucht zu werden, eine Form von Macht auf mich ausüben zu können, denn ich fragte oft und die ersten Monate recht bange nach dem Zustand meiner Rosen, und manchmal ließ sie sich genüsslich lange Zeit, bevor sie mir antwortete, dass alles in Ordnung sei.
Als aber eines Frühjahrs ein heftiger Sturm über den Garten fegte, rannte sie in den Hagel hinaus, um den vom Wind gebeutelten Strauch mit ihrem eigenen Körper zu schützen, sie weinte fast, als sie mir davon erzählte, dass ein Teil abgerissen worden wäre, trotz ihrer Bemühungen, sie trocknete die abgerissenen Blumen für mich und zeigte sie mir, als ich kam, in einer langen Reihe in einem Holzkästchen, das mit blauem altem Samt ausgekleidet war, vermutlich ein altes Futteral für eine Waffe oder ein eigenartiges Musikinstrument, das sie auf dem Dachboden gefunden hatte, sie zeigte sie mir fast stolz wie Museumsexponate, wie einen Beweis ihrer Treue und Verlässlichkeit.
Wenn ich zu Hause war, saß ich oft im Garten zwischen den Rosenstöcken und lernte Texte auswendig, der Geruch der Rosenblätter untrennbar verknüpft mit Shakespeares Tragödien und Tschechows scharfsinnigen Charakterstudien. Teile der Texte lösten sich Jahre später aus dem tiefen Dunkel meines Unbewussten und strebten an die Oberfläche, wenn ich diesen charakteristischen Geruch in der Nase hatte, auf Reisen, in Hotelzimmern, sogar wenn ich in Wien an den Rosenverkäufern vorbeiging, die monströs riesige Buketts, breiter als ein Hünenrücken, geschultert auf ihren Lederjacken trugen. Hamlets Verse lagen mir da ungefragt auf der Zunge, bereit, rezitiert und dargestellt zu werden, plötzlich, absurd, eine Textstelle, die sich collagenhaft mit anderen Stücken mischte, mit Komödien, mit Operetten, so wie der Rosenduft sich mischte mit dem herben Geruch des Leders und des Zigarettenrauchs. Ich fand, dass diese Zutaten den reinen Rosenduft entweihten, meine Straße drohte auf meinen Garten überzugreifen, und ich kaufte oft Rosen, für die ich eigentlich kein Geld hatte, um sie zu retten.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
»Versuchen Sie sich zu erinnern, was passiert ist, bevor Sie zu uns gebracht worden sind.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Versuchen Sie es, es ist sehr wichtig.«
»Mir ging es sehr schlecht, glaube ich …«
15
Ich stelle Leos Habseligkeiten, die ich aus dem Spital geholt habe, achtlos in der Küche ab und das Teewasser zu. Der Tee wird mir helfen, so wie er Leo immer geholfen hat. Ich setze mich mit Leos Tasse hin und versuche zu trinken, verbrühe meine Lippen sofort und setze sie wieder ab. Das Zimmer ist plötzlich zu groß. Mir wird schwindlig. Ich werde die Tür nicht finden. Ich will nach Hause.
Ich schließe hilflos die Augen und versuche, meines Vaters Haus zurückzuzwingen, das sich in lauter schattenhafte Flecken aufgelöst hat, in Nebelschleier, beschlagene Zeitfenster zwischen mir und ihm. Es wird jetzt wohl verfallen sein. Wenn meine Schwester ihre Liebschaft nicht retten konnte, wird ihnen niemand mehr bei den Reparaturen der Fassade helfen, niemand bei der Pflege des großen Gartens, der von Jahr zu Jahr mehr verwildert. Das viele Holz, das gekauft oder aus dem Wald gebracht werden will, um den großen Ofen zu beheizen, wenn die Schneestürme draußen die alten Bäume rütteln und deren Äste brechen. Das Heulen des Windes hinter dunklen Fensterscheiben, der eisige Hauch des gefrorenen Glases, durch das man die Landstraße nicht erkennen kann, nur eine
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