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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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für alle, ich muss herausfinden, wie es weitergeht. Das erste Mal in meinem Leben habe ich keine Ahnung, wie es weitergehen soll, ich habe keinen Plan und nur wenig Kraft, um meine Gedanken zu ordnen, die widerspenstig und sprunghaft geworden sind, ehemalige Haustiere, die nach und nach verwildern, sich unmerklich immer weiter von dem entfernen, was ihre Aufgabe in der Menschenwelt gewesen ist. Ich spüre, wie mein Körper heimtückisch seine Gefolgschaft zu verweigern beginnt, sich gegen mich wendet, und wenn ich es jetzt zulassen würde, bekäme ich auch das erste Mal Angst. Ich lege mich in einen Heuschober und liege zitternd vor Schüttelfrost bis zum nächsten Morgen im trockenen Gras vergraben und kämpfe Stunden gegen die aufkeimende Lust, mich auf dem Feld durch die Erde zu wühlen, um endlich wieder daran satt zu werden. Eine getigerte Katze kommt, sieht mich lange an und legt sich neben mich. Ihr Fell ist struppig und der Bauch warm und weich, sie riecht nach Feld und Jauche, ich lege meine Hand auf ihren Rücken und sie duldet es bis zum Morgen.
    *
    Irgendwo zwischen Weinbergen und heruntergekommenen Städtchen, zwischen Österreich und Italien oder der Schweiz werde ich glühend heiß, das Fieber verbeißt sich in Haut und Knochen, ich brenne, ich zerfließe, und ich zwinge mich weiter, denn ich weiß, dass gerade dann kein Liegenbleiben erlaubt ist, ich wanke also noch einen Kilometer und bin immer noch weit und breit in der Einöde. Dann verlassen mich endgültig die Kräfte, ich gehe immer langsamer, setze mich schließlich mitten auf die Landstraße. Werfe die Träger des Rucksacks ab, er fällt mit einem dumpfen Schlag neben mich auf die Erde, ich spüre, wie sie in einem kleinen Nachbeben erzittert, das Epizentrum meiner Schuld und meiner Sühne, meiner Geschichte und meiner Zukunft. Ich muss rasten, ein wenig rasten, bevor es weitergeht, weitergehen und aufstehen und weitergehen und aufstehen, das ist das, was sicher ist. Die Entspannung ist trügerisch, die Entspannung ist verlockend, und wie jede Verlockung ist sie gefährlich. Ich lasse meinen Kopf in die Erde fallen, meine Haare vermengen sich mit ihr, meine Finger, meine Rippen noch nicht. Ich hebe eine Handvoll endlich an meinen Mund und lecke darüber. Versenke meine Lippen darin, hole mir eine weitere Handvoll und schmiere meinen verschwitzten Oberkörper damit ein, die Brustwarzen verhärten sich, ich streiche fordernd über meine Haut, schmerzhaft fest eigentlich, versenke die erdig schwarzen Finger in meiner Scheide, spucke auf meine Hände, wühle gleichzeitig in ihr und in mir, vermenge unsere Feuchtigkeit, alles ist eins.
    Die Erde ist weich, so wie unsere Alten immer sagen, wenn wieder einmal jemand eingegraben werden muss, dann stehen sie versammelt am Friedhof herum, und sie weinen oder sind gerührt oder es ist ihnen egal, mir ist es meistens egal, und sie sagen gute Worte über den Menschen, und dann noch gute Worte über die Erde, die auf ihn wartet, geduldig wartet wie auf jeden von uns, vielleicht wollen sie die Erde gnädig stimmen, und ich weiß im Vorhinein, wie sinnlos das ist. Ich liege und horche, atme in meinen Bauch, und ich spüre, wie meine Brust sich hebt und senkt, hebt und senkt mit einem gemeinsamen Ausatmen und einem gemeinsamen Einatmen, ich bin nicht allein, ich liege auf einem riesigen Leib, der mich hält und bettet, mit jedem Luftholen steigt etwas aus den tiefer gelegenen Schichten empor, mir entgegen, es wird warm, als würde ich auf einer Heizdecke liegen, die sich in Wellen erhitzt, ich atme der Wärme zu, und sie mir, mein Atmen und das Aufwallen erreichen den gleichen Takt, wir sind ein Pendelschlag, wir nähern uns an und durchdringen uns, und ich weiß, warum, weiß, dass er endlich da ist, endlich, und ich spreize meine Finger, um die eigenartige Bewegung der Erde dahinter besser wahrzunehmen, die ich immer wieder wahrgenommen habe auf meinem Weg, in Häuserwänden, unter dem Asphalt, im Erdreich der Wälder, das, was ich sogar vor Dr. Petersen verborgen habe. Zu Recht, wie ich wusste, zu Recht. Ich kenne diese Erdhaut, die sich über einen gewaltigen Körper spannt, und dieser Körper folgt meinem Ruf und erhebt sich, erhebt sich um mich herum, erst die Schultern, mächtig wie Wälle, dann die Arme, das Wesen taucht aus den Erdschichten auf. Ich habe den Beerdigungsritus umgedreht, nichts geht in die Erde hinein, aber es kommt etwas zu mir, etwas, das mir gehört. Mir immer gehört hat. Auch wenn

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