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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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beschleunigen den Herzrhythmus, klingen noch in der Magengegend nach, in allen gespannten Häuten meines Körpers, der bloß ein Resonanzkörper ist. Kommen Sie! Gewinnen Sie!
    Ich mühe mich ab, ich mache den billigsten Preis. Ich habe wenig Zeit und noch weniger Wert. Während ich also die immer gleichen Runden durch die Dunkelheit ziehe, einmal die große Straße neben dem Vergnügungsteil des Praters, vorbei an Straßenbahnen und Autoströmen, durch den Wurstelprater quer durch, zwischen Buden und Autodromen, und lachenden Menschen, die sich zwischendurch die Fäuste in die Gesichter rammen, zwischen den sich drehenden blinkenden Leibern der Karusselle, werden meine Fußballen taub und die Beine selbständig, sie tragen mich fast ungesteuert über diese Runde, einmal, zweimal. Bei der dritten Umkreisung meines Jagdgebietes sehe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Licht der Straßenlaterne einen Mann, dessen Gang mir sofort auffällt. Er hat lange, dünne Beine, er geht leicht vornübergebeugt, er trägt einen dunklen Hut, der einen Schatten über sein Gesicht wirft, ich bin mir nicht sicher, ob er es wirklich ist. Ich laufe ihm nach. Er ist sehr weit weg und bewegt sich noch schneller, als ich laufen kann. Ich schreie laut seinen Namen.
    Der Mann hält inne. Dreht sich zu mir um.
    »Dr. Petersen!«, brülle ich erneut, meine Stimme kippt.
    Ich sehe seinen gebeugten Rücken, den beigen Mantel, den schwarzen Hut, den er trägt, ich rufe nochmals, nicht mehr so laut. Er reagiert nicht mehr. Ich starre auf seine sich zügig entfernende Gestalt, und ich überlege, wie schnell ich laufen müsste, um ihn einzuholen, und wie viel Kraftaufwand es wohl bräuchte, um seinen Nacken so zu überdehnen, dass die Wirbelsäule letale Verletzungen davontragen könnte. Das Bedürfnis, ihn tot zu meinen Füßen liegen zu sehen, ist sehr ausgeprägt. Ich stelle mir vor, wie sein Mund halb offen steht, seine Brille schief auf der Nase sitzt, das Ohr an das Straßenpflaster geschmiegt, um niemandem mehr eine Wahrheit entlocken zu können, die er nicht verdient hat, ich erinnere mich an sein Gesicht, an seine Lippen, die, wenn er sprach, sehr gepflegte Zähne freigaben, ebenso gepflegt und sauber wie seine Hände und Fingernägel. Ich erinnere mich an seine sauberen Worte, die er mir ungebeten ins Ohr träufelte, die ich versucht habe zu glauben, die ich sogar kurz zu glauben schaffte, ich sehe ihn nahe vor mir, die Kaffeetasse vor seinem Mund, sie dampft, seine vollen Lippen, die sich um den Rand legen, sein leicht schelmischer Blick, die so vernünftigen sauberen Worte, diese Lügen, die so wenig wert gewesen sind wie die Lügen meiner Mutter, nur besser verborgen im Nebel seiner Arzneien, sein Nebel war schwerer zu durchschreiten als ihrer, ich hätte es nicht vermutet, ich dachte immer, dass Frauen die hinterhältigeren Geschöpfe seien, und ich bin selbst erstaunt über meinen derart großen Irrtum, ich könnte lachen, ich starre auf seine sich zügig entfernende Gestalt und spüre innen eine kleine Kugel splittern. Ich mache mir meinen Urknall, ohne die Unendlichkeit um Erlaubnis zu fragen, ich mache mich frei. Ihre scharfkantigen Ränder spüre ich noch, als Dr. Petersens Hut auf Dr. Petersens Kopf längst ums Eck verschwunden ist.
    Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

20
    Einen Fuß vor den anderen, denke ich, einen Fuß vor den anderen, und nicht nachdenken, wann der erste Kilometer um ist, wann der erste Monat. Das sind Maßeinheiten, die keine Rolle spielen auf dieser Reise. Andere mögen Ziele und Zeiten abschätzen und fixieren und wählen, ich folge nur der einen Straße, die aus meinem Herzen in die Welt hinausführt, ohne mich zu fragen, ob ich ihr folgen möchte, mein Sehnen und meine Arterien und Blutgefäße und Nervenstränge hängen fest verbunden an diesem Weg, es ist keine Frage, ob ich folge, ich muss folgen, wohin diese Reise mich auch führen wird, mit meinem Erdbuckel als Rucksack, mit meinem Hass und meiner Treue.
    Der gelbe Backsteinweg führt mich, zu einer liegenden Acht geformt, und ich laufe sie hinauf und hinunter und lande nach der ersten Kurve wieder an der gleichen Stelle, von der aus ich aufgebrochen bin, ich kehre immer wieder zurück, vom Ort des Verbrechens an den der Sühne, und jedes Mal bin ich reich beladen mit Gütern und Gefahr. Und jedes Mal muss ich Menschen verbergen und abschütteln, die meine Wege kennenlernten, keiner soll sich je

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