Die Erdfresserin
mir der Mut fehlte, es zu rufen. Ich schließe die Augen, um nicht aus dem Rhythmus zu geraten.
Ein Atemzug hinein.
Das Leben, das mir meine Mutter gab.
Ein Atemzug hinaus.
Das Leben, das sie mir nahm.
Ein Atemzug hinein.
Der Vater, den ich nie kannte.
Ein Atemzug hinaus.
Das Geschenk, das ich bereit bin, an seiner statt anzunehmen.
Die Beine lösen sich aus der Erde heraus, groß, stämmig, ein jedes mindesten einen Meter breit, große Füße, die keine Zehen besitzen, sondern aus einem Guss sind, kaum vom Feld zu unterscheiden, aus dem sie sich erheben.
Ich lege meinen Kopf auf ihm ab, und es fühlt sich gut an, passend, ich lasse mich von dieser Wärme tragen. Er hat die Temperatur meines Blutes, oder ich die des seinen, wir sind vom gleichen Blut, ich und er, ich lasse mich fallen, bis die Schultern entspannt nach unten sinken, ich lasse mich treiben. Ich kann aus halb geschlossenen Augen grobe rötliche Finger aus Lehm erkennen, jeder einzelne größer als mein Arm, sie könnten mich im Bruchteil einer Sekunde zermalmen. Ich löse meinen Rücken von seiner Brust und setze mich auf, ohne mich umzudrehen, noch ist es nicht so weit. Noch nicht.
Er wächst in die Höhe, lautlos, Sand rieselt über meinen Kopf, der Schatten fällt über mich und zieht sich weit über den Weg, verlängert durch die untergehende Sonne hinter uns, der Himmel flammt auf und lodert.
Ich stehe auf, ohne mich umzudrehen. Das Ritual ist noch nicht vorbei. Noch nicht.
Ein Atemzug hinein.
Das Leben, das ich weitergab, verdreht und vergiftet wie ich.
Ein Atemzug hinaus.
»Warum hast du mich verlassen«, sage ich und drehe mich ruckartig um, bevor die Sonne untergeht.
»Warum hast du mich verlassen«, sage ich und wische eine Schicht Erde von meinem Gesicht, als wären das die immer noch fehlenden Tränen.
Der Golem antwortet nicht.
Der riesige Kopf, seltsam geplättet in der Mitte, ist abgewandt. Ich gehe um ihn herum. Er wendet sich erneut von mir ab, als wollte er sein Gesicht verbergen, und ich bin stur wie immer und schneller als er, dessen Bewegungen bedächtig und sehr, sehr langsam scheinen, ich umrunde ihn, bevor er sich wegdrehen kann, und pralle zurück. Die Fläche auf der anderen Seite des Kopfes ist leer. Er besitzt weder Mund noch Augen, noch Ohren, die Erde, aus der er geformt ist, ist an der Stelle, wo sein Gesicht sein sollte, völlig glatt.
»Sie haben mir nicht geholfen«, sage ich, »aber du wirst mir helfen. Ich habe dich vor ihnen verborgen. Du bist da.«
Der Golem bewegt sich nicht, dann pendelt sein Kopf sehr langsam von links nach rechts, als ob er Witterung aufnehmen würde, er wittert und wartet erneut, wartet auf meinen Befehl.
»Führe mich heim«, sage ich, »ich habe den Weg verloren.«
Er wendet sich gehorsam um und setzt sich plump in Bewegung, seine Schritte dröhnen in meinen Ohren, er muss tonnenschwer sein.
Während er geht, schwankt er bedrohlich, als wäre ihm diese Form der Fortbewegung noch fremd. Ich folge ihm in sicherem Abstand, sollte er zu schnell werden, hält er inne und dreht sich immer wieder nach mir um.
*
Mir ist nicht mehr heiß, seine Oberfläche hat die angenehme Temperatur eines Kachelofens. Manchmal muss ich noch rasten, und während ich raste, steht er gehorsam hinter mir, und ich lehne mich an seine Beine. Wir gehen die ganze Nacht. Zunächst langsam.
Jeder Schritt, den ich als seine Gefolgschaft auf die Erde setze, macht mich stärker, gelenkiger und schneller. Unbesiegbar. Achillesfersenlos.
So beschwingt bin ich, so leicht, als wäre ich ein wenig beschwipst, als wäre ich eines dieser goldenen Bläschen, die im Sekt fröhlich nach oben steigen. Die Welt ist funkelnd und nagelneu. So leicht bin ich, so losgelöst von der Erde, die mich nicht länger halten kann, ich wundere mich, wieso ich mich nicht längst mit den Fußsohlen schwerelos von den breiten Tannenästen abstoße, um über den dunklen Tannenwipfeln, die sich im Wind beugen, den Sternen entgegenzuschweben, nichts kann mich halten, jetzt, wo er mich führt und ich mich führen lasse, es ist so unbeschreiblich schön, sich führen zu lassen. Nur einmal, sich das nur einmal zu erlauben, nicht vorzudenken, nicht die nächste Woche, nicht den nächsten Tag, nicht einmal die nächste Stunde oder den nächsten Schritt. Ich folge ihm voller Vertrauen und trunkener Ruhe. Er wird mich sicher heimbringen.
Aber als der untergehende Mond zwischen den Wolken hervorkommt, sehe ich Felder, Felder, und dann
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