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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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an meine Fersen heften können, nie wieder soll mir jemand so nahe kommen, wie es Leo in seiner Ahnungslosigkeit gelungen ist, der dumme Leo mit seiner kleinen Welt rund um sein stinkendes Bett.
    »Soll er dich heiraten«, hat mich Nastja gefragt, und ich habe es mir nicht gewünscht, und Nastja, die dumme Fee, hat mich nicht noch einmal gefragt nach meinen drei Wünschen, sie hat auf ihre Bezahlung gewartet und sie nicht bekommen, betrogen um Sicherheit wie Leo und ich selbst, und irgendwann hob sie nicht mehr ab, wenn ich sie erneut auf die Bühne meines Dramas bitten wollte mit einem Zugabeapplaus.
    Diese Bühne ist immer eine Falle, der Saal in blutroten Samt und verlockendes Halbdunkel gehüllt, mit hallenden Schritten, der schweigende Saal, ich erinnere mich, wie ich absichtlich direkt in die Lichter der Bühnenlampen blickte, ohne Angst vor der vorübergehenden Blindheit zu haben, um meine Augen effektvoller hervorzuheben, um die Tränen zu spüren, die vom Skript vorgesehen, aber niemals in meiner von den langen Fingern meiner räuberischen Mutter durchlöcherten Brust vorhanden gewesen sind, ich bin leckgeschlagen, ich weine nicht, weder auf der Bühne noch auf der Straße, die dieselbe Bühne ist, mit den gleichen Lichtern, die mich meinen Zusehern gut vorführen sollen, gleißende Lichter in der Finsternis. Dreimal das Rot meines Lebens: rote Lichter, roter Samt und rote Schminke, die ganze Clownerie, die ganze schlecht bezahlte Clownerie meines Lebens. Rote Lichter und rote Nasen.
    »Tanz mit mir, Liebes«, sage ich zu meinem Sohn und ergreife seine kleinen Hände, und wir drehen uns im Kreis, im Hof unter der Linde, im Hof unter dem Kastanienbaum, wir drehen uns im Kreis, bis sein Gesicht länger und gröber wird, und ein dunkler Flaum sich über seine Wangen ausbreitet und dunkle Schatten unter seinen Augen, und dieser typische eigenartige Geruch, den der Schweiß annimmt, wenn er seine Medikamente nimmt, mir in die Nase steigt und den Lindenduft überlagert.
    »Tanz mit mir«, schreie ich und reiße an seinem Arm, und wir lehnen uns mit vollem Gewicht gegeneinander, unsere Arme bilden einen gordischen Knoten, und wir drehen uns, meine Haare fliegen, ich lache, aus dem Augenwinkel sehe ich die Monstrositäten des Wiener Wurstelpraters vorüberziehen, sie heben die Pranken und greifen an uns vorbei ins Leere, ein Ringelspiel, Geruch nach Bratfett, rosa Watte, Erbrochenes.
    »Schießen Sie Ihr Glück«, sagt eine schnarrende Stimme, und ich lache wieder.
    »Schießen Sie! Schießen Sie! Gewinnen Sie!«
    Ich nehme die Spielzeugpistole, die ich aus Holland mitgebracht habe, und ziele und drücke ab, eine rote Rose quillt aus dem Lauf und aus meiner Brust ebenso rotes Blut.
    »Mach schnell, mal was«, sage ich zu meinem Sohn und drücke seine Kinderhand mit dem Männerflaum darauf fest gegen das Rinnsal. »Mal mir was.«
    *
    In manchen Gegenden ist es noch warm, während da, wo ich bin, bereits Schnee liegt. Ich werde die Schneegrenze umgehen, ich würde am liebsten den Vögeln hinterher in bessere Gebiete nachziehen, den Raben, die uns im Winter verließen und denen ich schon oft auf meinen Reisen begegnet bin. Ich beobachte die riesigen Schwärme, die in genau choreografierten Bewegungen durch den Himmel ziehen, über den dunklen Feldern, die lange Reihen aufgewühlter Erde tragen wie das Zopfmuster afrikanischer Frisuren.
    Der Weg zurück führt mich in die entgegengesetzte Richtung. Ich versuche, mich zu erinnern, wie ich immer ging. Es fällt nicht leicht.
    Ich packe die Feuchttücher aus, die ich immer dabeihabe, und reinige mich, ein paar Striche über das Gesicht müssen reichen, dann aufmerksam und sorgfältig die Hinterbacken entlang, in den Anus hinein, die Schamlippen umrundend, zuerst die äußeren, dann die inneren. Anschließend wieder um Nase, Lippen, Augen, Kinn. Ich rieche mich und ihn, kurz, dann wird der Geruch von Reinigungsmitteln übermächtig.
    Ich spüre die chemische Feuchtigkeit in meinem aufgescheuerten trockenen Inneren und warte darauf, dass es brennt. Wenn es brennt, dann merzt es Infektionen aus, sagt man, alles, was Schmerzen verursacht, härtet ab und rettet vor noch größerem Schmerz.
    Es brennt und ich entspanne mich zusehends. Mein Atem kondensiert vor meinem Gesicht und meine Hände schmerzen, der eisige Wind, der die Feuchttuchsäfte und die Menschensäfte auf meinen Fingern zufrieren lässt, wird meine Haut aufspringen lassen wie die meiner Mutter, auch ich wasche die

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