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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julya Rabinowich
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Schwelle der Erwartung, täglich, immer wieder aufs Neue, und als mir klar wird, dass ich genauso dämlich geworden bin wie sie, muss ich lachen, bevor ich ausspucken muss.
    Ich stehe da mit heruntergelassener Strumpfhose und gerafftem Wollrock, die Moonboots versunken in festem Schnee, und spucke wie ein exportiertes Kamel, mein Rucksack bildet einen passenden Buckel, dessen Schatten in meinen Schatten hineinschmilzt, ich stelle mir den entspannten Ausdruck vor, mit dem die Kamele im Wiener Zoo ihre Opfer ausgesucht haben. Die Speichelbatzen fliegen recht weit und die Tiere waren gut im Zielen. Wenn ich nur halb so viele Treffer lande, habe ich schon ausgesorgt, denke ich, und dann denke ich daran, wie das war, die Ausflüge nach Schönbrunn, diese fremde irreale Welt zwischen den k. und k. gelb gestrichenen Fassaden der imperialen Gebäude und den geometrisch getrimmten Pflanzen im Schlossgarten, die mich immerzu an Schamrasuren aus besonders dichtem Haar erinnert haben, eine Welt, die sich mir kurzfristig geöffnet hat, um mich umso nachhaltiger per Fußtritt wieder zu entfernen.
    Ich klammere die Hände um die Leere zusammen, ziehe die Hosen hoch und stecke die zu Fäusten geklammerten Hände in die Manteltaschen, ich klammere, wie ich sie um die Griffe von Leos Rollstuhl geklammert habe, der Rollstuhl war unser beider Strohhalm und wir gemeinsam in den Fluten des Alltags unterwegs, der für mich so einfach und für Leo so schwer geworden war, wir drifteten auseinander in diesem Alltag, er Richtung Endstation und ich Richtung Ausgang, während wir weiterhin vorgaben, gemeinsam zu reisen. Ich also hinter seinem Rollstuhl, die Finger um den Griff, und er die seinen um seinen Fotoapparat, fest, wir wollten beide festhalten und hatten beide Schiss.
    Das ist die Welle, vor der mich auch Dr. Petersen nicht retten konnte, eigentlich konnte mich nichts mehr auf der Welt vor dieser Welle retten, ich weiß es, sie wird sich über mir aufbauen, auf mich niederbrechen und mich als kleine Gliederpuppe durch die Welt spülen, während ich mich ein ums andere Mal überschlage und gegen Gegenstände pralle.
    Und als ich fertig bin mit dem Weinen und dem Schreien und dem Zerkratzen meiner Handgelenke, die erste Welle jedenfalls vorbei ist, und ich eine Atempause habe zwischen den Geburtswehen des großen Leokummers, der noch rund und prall in meinem Bauch liegt, noch nicht bereit, das Licht der Welt zu erblicken, als ich Luft hole, erleichtert und vor Erschöpfung auf einen gefrorenen Baumstamm sinke, die Füße ausgestreckt, merke ich, dass sich etwas verändert hat, eine kaum merkliche Veränderung, als ob sich ganz sanft, kaum spürbar die Hügel gesenkt hätten, wie meiner Mutter Brust, wenn sie endlich ausatmete, und die Bitternis zwischen uns stehen blieb, bevor sie sie wieder zurücknahm mit dem nächsten Atemzug und nur noch der vorwurfsvolle Blick übrig blieb, dieser Blick, der mir sagen würde, dass sie all das nur meinetwegen zurücknehmen würde in ihren zähen Leib.
    Die Muskeln im Nacken sind verkrampft, ich lasse den Kopf nach hinten fallen, bis er an die Rucksackoberkante stößt. Das Gewicht meiner Schultern fängt das Gewicht meiner Vergangenheit ab, ich bin Atlas und stolz darauf, und als ich den Kopf wieder hebe als autarker Atlas einer erdfreien Welt, nur Atlas, und nur Atlas selbst auf den Schultern, sehe ich eindeutig eine Bewegung hinter den Hügeln. Ich richte mich auf. Als ich den Blick kurz senke, bewegt sich wieder etwas, heimtückisch oder auch schelmisch, als ob sich darunter etwas im Schlaf regen würde, träge und langsam und unbewusst.
    *
    Der Weg will und will sich mir nicht erschließen. Ich muss zu Hause anrufen, denke ich, vielleicht können sie mir sagen, wie ich heimkomme. Aber dafür brauche ich die passende Währung und eine Telefonzelle, dafür brauche ich Menschen. Das Problem ist, dass ich seit einiger Zeit in der Menschenleere herumirre.
    Das Problem ist, dass nur einer krank sein darf, nur einer schwach, und dieser eine bin niemals ich. Abwesend darf ich sein, so abwesend wie mein Vater, aber niemals, niemals darf ich unsicher werden, das habe ich mir versprochen, und meinem Sohn, meiner Mutter, Nastja und Leo, sie haben mich stark gemacht, sie waren meine ausgedörrten Wurzeln, die ich tiefer ins Erdreich versenken konnte als meine eigenen, und je länger ich mich von ihnen entferne, desto schwächer werde ich, genauso, wie es auch Atlas ergangen ist. Ich muss eine Lösung finden,

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