Die Erfindung der Einsamkeit
so heftig sind, dass sein Leben nicht mehr in der Gegenwart stattzufinden scheint.
Erinnerung als ein Ort, als ein Gebäude, als eine Reihe von Säulen, Simsen, Säulenhallen. Der Körper im Innern des Kopfs, als ob wir uns darin bewegten, von einem Ort zum anderen, und das Geräusch unserer Schritte, wenn wir von einem Ort zum anderen gehen.
«Man muss daher eine große Anzahl von Orten verwenden», schreibt Cicero, «die gut beleuchtet, übersichtlich und in mäßigem Abstand voneinander angeordnet sein müssen; und Bilder, die wirksam, scharf umgrenzt und ungewöhnlich sind und die Kraft haben, in die Seele einzudringen … Denn die Orte gleichen Wachstafeln oder Papyrus, die Bilder gleichen den Buchstaben, Verteilung und Anordnung der Bilder gleichen der Schrift, und das Sprechen gleicht dem Lesen.»
Vor zehn Tagen ist er aus Paris zurückgekommen. Er war dort zu einem Arbeitsbesuch, und es war das erste Mal seit über fünf Jahren, dass er im Ausland war. Das Reisen, die ständigen Gespräche, die Trinkgelage mit alten Freunden, die allzu lange Trennung von seinem kleinen Sohn, all das hatte ihn schließlich erschöpft. Da er am Ende seiner Reise noch ein paar Tage übrig hatte, beschloss er, nach Amsterdam zu fahren, wo er noch nie gewesen war. Er dachte: die Gemälde. Doch einmal dort angekommen, machte etwas, was er gar nicht eingeplant hatte, den größten Eindruck auf ihn. Ohne besonderen Anlass (beim müßigen Blättern in einem Stadtführer, den er in seinem Hotelzimmer gefunden hatte) beschloss er, das Anne-Frank-Haus zu besuchen, das jetzt als Museum eingerichtet ist. Es war ein regengrauer Sonntagmorgen, und die Straßen am Kanal waren menschenleer. Er erstieg die schmale steile Treppe in dem Haus und trat in den geheimen Anbau. Als er in Anne Franks Zimmer stand, dem jetzt kahlen Zimmer, in dem das Tagebuch entstanden war, mit den verblassten Bildern von Hollywoodstars, die sie gesammelt hatte, noch immer an den Wänden, brach er plötzlich in Tränen aus. Er schluchzte nicht, wie es vielleicht als Reaktion auf einen tiefen innerlichen Schmerz geschehen könnte, sondern weinte tonlos; die Tränen liefen ihm über die Wangen, als wären sie bloß eine Reaktion auf die Welt als Ganzes. In diesem Augenblick, so erkannte er später, hatte Das Buch der Erinnerung begonnen. Wie in dem Satz: «Sie hat das Tagebuch in diesem Zimmer geschrieben.»
Von dem Fenster dieses Zimmers aus sieht man auf der anderen Seite des Hinterhofs die hinteren Fenster eines Hauses, das einmal von Descartes bewohnt wurde. Jetzt stehen Kinderschaukeln im Hof, Spielsachen liegen im Gras, hübsche kleine Blumen. Als er an jenem Tag aus dem Fenster sah, fragte er sich, ob die Kinder, denen dieses Spielzeug gehörte, irgendeine Vorstellung von dem haben mochten, was sich an der Stelle, wo er jetzt stand, vor fünfunddreißig Jahren abgespielt hatte. Und wenn ja, was es wohl für ein Gefühl wäre, im Schatten von Anne Franks Zimmer aufzuwachsen.
Um Pascal zu wiederholen: «Alles Unglück des Menschen ist auf einen einzigen Umstand zurückzuführen: dass er unfähig ist, still in seinem Zimmer zu bleiben.» Etwa zur gleichen Zeit, da diese Worte in die Pensées Eingang fanden, schrieb Descartes einem Freund in Frankreich von seinem Zimmer in jenem Haus in Amsterdam. «Gibt es irgendein anderes Land», fragte er begeistert, «wo man die Freiheit in so großen Zügen genießen kann wie hier?» In gewisser Hinsicht lässt sich alles als Kommentar zu irgendetwas anderem lesen. Sich zum Beispiel vorstellen, Anne Frank hätte nach dem Krieg weitergelebt und als Studentin in Amsterdam Descartes’ Meditationen gelesen. Sich eine so erdrückende, so untröstliche Einsamkeit vorstellen, dass einem für Jahrhunderte der Atem wegbleibt.
Er bemerkt mit einer gewissen Faszination, dass Anne Frank am gleichen Tag wie sein Sohn Geburtstag hat. Zwölfter Juni. Im Zeichen der Zwillinge. Eine Welt, in der alles doppelt vorkommt, in der alles zweimal geschieht.
Erinnerung: der Raum, in dem etwas zum zweiten Mal geschieht.
Das Buch der Erinnerung. Buch zwei.
Israel Lichtensteins Testament. Warschau; 31. Juli 1942.
«Mit Hingabe und Begeisterung stürzte ich mich in die Aufgabe, bei der Sammlung von Archivmaterial mitzuarbeiten. Man vertraute mir das Amt des Kustos an. Ich versteckte das Material. Außer mir wusste niemand etwas davon. Vertrauen hatte ich nur zu meinem Freund Hersh Wasser, meinem Aufseher … Es ist gut versteckt. Gebe
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