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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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beantragte Internationalisierung Jerusalems. 1948 wurde Auster (ein Vertreter der Fortschrittspartei) zum Bürgermeister von Jerusalem gewählt und war damit der erste, der dieses Amt in einem unabhängigen Israel innehatte. Auster bekleidete dieses Amt bis 1951. Ferner war er 1948 Mitglied des Vorläufigen Rates von Israel. Er leitete die israelische United Nations Association von ihrer Gründung bis zu seinem Tod.

    Während seiner drei Tage in Amsterdam lief er ständig umher wie ein Verirrter. Die Stadt ist kreisförmig angelegt (eine Reihe konzentrischer Kreise, durchschnitten von Kanälen, die von Hunderten winziger Brücken überquert werden und alle miteinander verbunden sind, als wären sie endlos), und man kann nicht, wie in anderen Städten, einfach einer Straße «folgen». Um irgendwohin zu gelangen, muss man sein Ziel schon im Voraus kennen. A. kannte es nicht, denn er war ein Fremder und empfand darüber hinaus einen seltsamen Widerwillen dagegen, einen Stadtplan zu konsultieren. Drei Tage lang regnete es, und drei Tage lang ging er in Kreisen umher. Ihm wurde klar, dass Amsterdam im Vergleich zu New York (oder New Amsterdam, wie er es nach seiner Rückkehr gern bei sich nannte) ein kleiner Ort war, eine Stadt, deren Straßen man sich wahrscheinlich in zehn Tagen einprägen konnte. Und doch, wäre es ihm nicht, selbst wenn er sich verirrt hatte, möglich gewesen, irgendeinen Passanten nach dem Weg zu fragen? Theoretisch ja, in Wirklichkeit aber war er unfähig, sich dazu zu überwinden. Nicht dass er sich vor Fremden fürchtete oder dass er physisch das Sprechen verweigerte. Nein, subtiler: Es widerstrebte ihm, die Holländer auf Englisch anzusprechen. Fast jeder in Amsterdam spricht ausgezeichnet Englisch. Doch eben diese Leichtigkeit der Kommunikation brachte ihn aus der Fassung, als ob sie die Stadt ihrer Fremdheit beraubt hätte. Nicht in dem Sinne, dass er auf Exotisches aus war, sondern in dem Sinne, dass die Stadt nicht mehr sie selber gewesen wäre – als würde den Holländern, wenn sie Englisch sprächen, ihr Holländertum abgenommen. Hätte er sicher sein können, dass niemand ihn verstünde, hätte er nicht angestanden, auf einen Fremden loszustürzen und ihn auf Englisch anzusprechen, um sich ihm auf komische Weise verständlich zu machen: mit Worten, Gesten, Grimassen usw. So aber war er nicht bereit, das Holländertum der Holländer zu stören, wenngleich sie selbst sich natürlich schon vor langer Zeit darin hatten stören lassen. Jedenfalls hielt er aus diesem Grund den Mund. Er streifte umher. Er ging in Kreisen. Er ging freiwillig in die Irre. Manchmal war er, wie er später entdeckte, nur noch wenige Schritte von seinem Ziel entfernt, bog dann aber, da er nicht wusste, wohin er sich wenden musste, in die falsche Richtung ab und kam damit immer weiter weg von dort, wohin er zu gehen glaubte. Ihm kam der Gedanke, dass er womöglich die Kreise der Hölle abschritt, dass die Stadt als ein Modell der Unterwelt angelegt war, nach der Vorlage irgendeiner klassischen Beschreibung dieses Ortes. Dann fiel ihm ein, dass diverse Darstellungen der Hölle von einigen Autoren aus dem sechzehnten Jahrhundert als Gedächtnissystem benutzt worden waren. (Zum Beispiel von Cosmas Rossellius in seinem Thesaurus Artificiosae Memoriae , Venedig, 1579). Und wenn Amsterdam die Hölle war, und wenn die Hölle das Gedächtnis war, dann mochte, wie er erkannte, sein Irregehen womöglich einen Zweck haben. Abgeschnitten von allem, was ihm vertraut war, unfähig, auch nur einen einzigen Bezugspunkt auszumachen, sah er, dass seine Schritte, indem sie ihn nirgendwohin führten, ihn nur zu sich selbst führten. Er streifte durch sein Inneres, und er hatte sich verirrt. Dieser Zustand des Verirrtseins aber beunruhigte ihn keineswegs, sondern wurde im Gegenteil zu einer Quelle des Glücks, eines Hochgefühls. Er sog dies bis in seine Knochen ein. Als stünde er kurz davor, ein bis dahin verborgenes Wissen zu entdecken, sog er dies in seine Knochen ein und sagte schier triumphierend zu sich selbst: Ich habe mich verirrt.

    Sein Leben schien nicht mehr in der Gegenwart stattzufinden. Wenn er irgendwo ein Kind sah, versuchte er sich jedes Mal vorzustellen, wie es als Erwachsener aussehen würde. Wenn er irgendwo einen alten Menschen sah, versuchte er sich jedes Mal vorzustellen, wie dieser als Kind ausgesehen hatte.
    Am schlimmsten war es mit Frauen, zumal wenn die Betreffende jung und schön war. Er konnte nicht

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